Zeit im Wind
Heiligenschein. Und in dem weich fließenden weißen Kleid, das für sie maßgeschneidert schien, bot sie einen erstaunlichen Anblick. Sie sah nicht aus wie das Mädchen, mit dem ich aufgewachsen war, auch nicht wie das Mädchen, das ich in letzter Zeit kennengelernt hatte. Sie trug ein bißchen Makeup nur ein bißchen, was die Weichheit ihrer Züge hervorhob. Sie lächelte sanft, als trüge sie ein Geheimnis in ihrem Herzen, so wie die Rolle es verlangte.
Sie sah genau aus wie ein Engel.
Ich weiß, daß meine Kinnlade herunterklappte, während ich sie für eine Ewigkeit, so schien mir, anstarrte und nichts über die Lippen brachte. Plötzlich fiel mir mein Text wieder ein. Ich holte tief Luft und sprach ihn ganz langsam.
»Du bist schön«, sagte ich, und ich glaube, daß jeder im Zuschauerraum, von den alten Damen mit dem blaugetönten Haar bis hin zu meinen Freunden in der letzten Reihe, wußte, daß ich es ehrlich meinte.
Zum ersten Mal hatte ich diesen Satz mit der richtigen Überzeugung hervorgebracht.
Kapitel 9
Wenn man jetzt annimmt, daß das Stück ein riesiger Erfolg war, so ist das gelinde gesagt untertrieben. Die Zuschauer lachten und weinten, genau wie es vorgesehen war. Aber durch Jamies Mitwirken wurde es wirklich ein besonderes Ereignis - ich glaube, alle in der Truppe waren genauso verblüfft wie ich darüber, wie gelungen die Aufführung war. Alle Akteure hatten den gleichen Gesichtsausdruck, als sie Jamie zum ersten Mal auf der Bühne erblickten, was ihre schauspielerische Leistung um so überzeugender machte. Wir führten das Stück am ersten Abend ohne Pannen auf, und am nächsten Abend waren noch mehr Zuschauer da. Sogar Eric kam nach der Aufführung zu mir und gratulierte mir, was mich einigermaßen überraschte.
»Ihr zwei habt gut gespielt«, erklärte er schlicht. »Ich bin stolz auf dich, mein Freund.«
Während er sprach, rief Miss Garber jedem, der ihr zuhörte oder der nur vorbeiging, »großartig!« zu, und zwar so oft, daß ich es noch hörte, als ich an dem Abend im Bett lag. Nachdem der letzte Vorhang gefallen war, sah ich mich nach Jamie um und entdeckte sie bei ihrem Vater. Er hatte Tränen in den Augen - ich hatte ihn noch nie weinen gesehen -, und Jamie lag in seinen Armen. Lange Zeit hielten sie sich umschlungen. Er streichelte ihr über das Haar und flüsterte: »Mein Engel«, während sie die Augen geschlossen hatte, und da mußte selbst ich schlucken. DAS RICHTIGE zu tun war letztlich doch nicht so schlecht, merkte ich.
Nachdem sie sich wieder losgelassen hatten, gab Hegbert ihr stolz zu verstehen, daß sie zu den übrigen Schauspielern gehen sollte, von denen sie mit Glückwünschen überhäuft wurde. Sie wußte, daß sie gut gespielt hatte, obwohl sie immer wieder sagte, sie verstehe nicht, weshalb man soviel Aufhebens machte. Sie war so freundlich wie immer, aber da sie so hübsch aussah, wirkte sie ganz anders, wenigstens auf die meisten. Ich stand im Hintergrund und gönnte ihr diesen glücklichen Moment. Ich gebe zu, daß ich mich ein bißchen wie Hegbert fühlte. Ich freute mich für sie und war auch ein bißchen stolz. Als sie mich an der Seite stehen sah, machte sie sich los und kam zu mir herüber.
Sie sah mich an und sagte: »Danke für deine Hilfe, Landon. Du hast meinen Vater sehr glücklich gemacht.«
»Ich hab's gern getan«, antwortete ich aufrichtig. Als wir sprachen, wurde mir bewußt, daß sie mit Hegbert nach Hause fahren würde, und wünschte mir zum ersten Mal, ich könnte sie nach Hause bringen.
Am Montag darauf brach unsere letzte Schulwoche vor den Weihnachtsferien an, für die in jedem Fach Prüfungen angesagt waren. Außerdem mußte ich endlich meine Bewerbung für die UNC schreiben, die ich vor mir hergeschoben hatte, weil wir so viele Proben hatten. In dieser Woche wollte ich also ziemlich viel lernen und mir abends, bevor ich ins Bett ging, meine Bewerbung vornehmen. Trotzdem konnte ich nicht aufhören, an Jamie zu denken.
Jamies Verwandlung in dem Stück war so überwältigend gewesen, daß ich annahm, es deutete auf eine Veränderung in ihr hin. Ich weiß nicht, warum ich das dachte, jedenfalls tat ich es und war überrascht, als sie am Montag morgen auftauchte, als sei nichts gewesen: im braunen Pullover, die Haare im Knoten, mit kariertem Rock und so weiter.
Als ich sie sah, spürte ich Mitleid mit ihr. Am Wochenende hatte man sie als normal, ja sogar als etwas Besonderes betrachtet, oder so war es mir wenigstens vorgekommen,
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