Zeit im Wind
brauchen würde, als ich zunächst angenommen hatte. Daß ich erst zwanzig Gläser oder so eingesammelt hatte, lag daran, daß ich eine einfache Tatsache des Lebens in Beaufort außer acht gelassen hatte. In einer kleinen Stadt wie dieser war es unmöglich, einfach in ein Geschäft zu eilen, das Glas unter den Arm zu packen und wieder zu verschwinden, ohne mit dem Inhaber ein paar Worte zu wechseln oder irgend jemand zu begrüßen, der einen erkannt hatte. Es gehörte sich einfach nicht. Ich mußte also geduldig zuhören, während mir einer von dem Seehecht erzählte, den er letzte Woche an der Angel hatte; oder es fragte mich ein anderer, wie es in der Schule so ging, und erwähnte nebenbei, daß im Hof ein paar Kisten stünden, die in den Keller müßten; oder vielleicht wollte einer meine Meinung hören, ob er ein Zeitschriftenregal umstellen sollte. Jamie wäre bestens damit klargekommen, und ich versuchte, mich in ihrem Sinne zu verhalten, denn schließlich war es ihr Projekt.
Um schneller voranzukommen, überprüfte ich die Einnahmen nicht zwischendurch, sondern leerte den Inhalt in ein Glas und dann, als das voll war, in das nächste. Am Ende des ersten Tages füllte das Kleingeld zwei große Gläser, die ich mit in mein Zimmer nahm. Ich sah ein paar Scheine durch das Glas - nur ein paar -, doch erst, als ich den Inhalt auf den Fußboden leerte und feststellte, daß es hauptsächlich Pennies waren, war ich ernstlich beunruhigt. Obwohl ich längst nicht so viele Spielmarken und Büroklammern fand, wie ich vermutet hatte, war ich doch enttäuscht. Ich zählte zwanzig Dollar und zweiunddreißig Cents. Selbst 1958 war das nicht viel Geld, besonders wenn es unter dreißig Kindern aufgeteilt werden sollte.
Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen. Ich nahm an, daß es nur besser werden konnte, und fuhr am nächsten Tag wieder los. Ich packte bei ein paar Dutzend Kisten mit an und plauderte mit rund zwanzig Geschäftsinhabern, bei denen ich die Gläser einsammelte. Das Ergebnis? Dreiundzwanzig Dollar neunundachtzig Cents.
Am dritten Tag war das Ergebnis noch magerer. Nachdem ich das Geld gezählt hatte, wollte ich es kaum glauben. Es waren nur elf Dollar zweiundfünfzig. Die Gläser hatte ich bei den Kiosken am Strand abgeholt, wo Teenager wie ich herumhingen und die Touristen spazierengingen. Es war wirklich nicht besonders rühmlich, dachte ich.
Als ich den Gesamterlös zusammenrechnete insgesamt 55,73 Dollar -, wurde mir ganz schlecht. Schließlich hatten die Gläser ein ganzes Jahr dort gestanden, und auch ich hatte sie unzählige Male gesehen. An dem Abend sollte ich Jamie anrufen und ihr sagen, wieviel Geld zusammengekommen war. Sie hatte mir gesagt, daß sie in dem Jahr etwas ganz Besonderes vorhatte, und mit der Summe war das nicht möglich - selbst ich begriff das. Ich log sie an und erklärte, ich wolle alles erst dann zusammenzählen, wenn wir uns träfen, weil es doch ihr Projekt sei, nicht meins. Es war so deprimierend. Ich versprach ihr, am folgenden Nachmittag nach der Schule mit dem Geld bei ihr vorbeizukommen. Das war der 21. Dezember, der kürzeste Tag des Jahres. Bis Weihnachten waren es nur noch vier Tage.
»Landon«, sagte sie, nachdem wir alles zusammengezählt hatten, »das ist ein Wunder!«
»Wieviel ist es denn?« fragte ich. Natürlich wußte ich ganz genau, wieviel es war.
»Es sind fast zweihundertsiebenundvierzig Dollar!«
Sie strahlte über das ganze Gesicht, als sie mich ansah. Da Hegbert zu Hause war, durfte ich im Wohnzimmer sitzen, wo Jamie das Geld gezählt hatte. Es war in ordentlichen Häufchen über den ganzen Fußboden verteilt, fast alles waren Fünfundzwanzig-Cent-Stücke und Zehn-Cent-Stücke. Hegbert saß in der Küche, wo er seine Predigt schrieb, und wandte den Kopf, als er ihre Stimme hörte.
»Meinst du, daß das reicht?« fragte ich unschuldig.
Ein paar Tränen stahlen sich aus ihren Augen, als sie sich im Zimmer umsah und immer noch nicht glauben konnte, was da lag. Sogar nach dem Theaterstück war sie nicht so glücklich gewesen. Sie sah mich an.
»Es ist… wunderbar«, sagte sie gerührt und lächelte.
»Im letzten Jahr habe ich nur siebzig Dollar gesammelt.«
»Ich bin froh, daß diesmal mehr zusammengekommen ist«, sagte ich durch den Kloß, der sich in meinem Hals bildete. »Wenn du die Gläser nicht so früh im Jahr aufgestellt hättest, wäre das Ergebnis vielleicht nicht so gut gewesen.«
Ich wußte, daß ich log, aber das kümmerte mich nicht.
Weitere Kostenlose Bücher