Zeit im Wind
Weihnachtsfest meines Lebens.«
Ich sagte nichts und griff nach meinem Bowleglas. Immer noch liefen die Weihnachtslieder auf dem Grammophon und erfüllten den Raum mit Musik. Ich nahm einen Schluck aus dem Glas, um meine trockene Kehle zu befeuchten. Während ich trank, mußte ich an all die Male denken, die ich mit Jamie zusammengewesen war. Ich dachte an den Ball und daran, was sie für mich getan hatte. Ich dachte an das Theaterstück, in dem sie so engelsgleich ausgesehen hatte. Ich dachte daran, wie ich sie nach Hause begleitet hatte und wie ich ihr geholfen hatte, die Gläser mit dem Geld für die Waisenkinder einzusammeln.
Als mir all diese Bilder durch den Kopf gingen, stockte mir plötzlich der Atem. Ich sah Jamie an, dann wanderte mein Blick zur Decke und im Zimmer herum, während ich mich bemühte, die Fassung zu bewahren, dann sah ich wieder Jamie an. Sie lächelte mir zu, und ich lächelte ihr zu, und dann wunderte ich mich sehr, wie ich mich in ein Mädchen wie Jamie Sullivan verlieben konnte.
Kapitel 10
Nach der Weihnachtsfeier fuhr ich Jamie vom Waisenhaus nach Hause. Anfangs überlegte ich noch, ob ich ihr mit der alten Masche kommen und meinen Arm um ihre Schulter legen sollte, aber ehrlich gesagt wußte ich nicht, wie sie zu mir stand. Zugegeben, sie hatte mir das schönste Geschenk gemacht, das ich je bekommen hatte, auch wenn ich das Buch niemals, so wie sie, aufschlagen und darin lesen würde, aber ich wußte, daß sie mir ein Stück von sich selbst gegeben hatte. Doch Jamie gehörte zu den Menschen, die einem Fremden, dem sie auf der Straße begegneten, eine Niere spenden würden, wenn er eine brauchte. Also war ich mir nicht ganz sicher, was ich von all dem halten sollte.
Jamie hatte mir schon einmal gesagt, daß sie kein Dummkopf sei, und mittlerweile war ich bereit, das zu glauben. Sie war vielleicht… anders, gut…, aber sie hatte erahnt, was ich für die Waisenkinder getan hatte, und wenn ich es mir recht überlegte, so hatte sie es schon in dem Moment gewußt, als wir bei ihr im Wohnzimmer auf dem Fußboden saßen und das Geld zählten. Als sie es ein Wunder nannte, sprach sie wahrscheinlich von mir.
Ich erinnere mich noch, daß Hegbert ins Zimmer kam, als wir darüber sprachen, aber er sagte nichts dazu. Der alte Hegbert war nicht ganz er selbst in letzter Zeit, zumindest kam es mir so vor. Oh, seine Predigten waren immer noch brisant und befaßten sich nach wie vor mit dem Thema der Unzuchttreibenden, aber in letzter Zeit waren sie kürzer, und manchmal hielt er mitten im Satz inne und schien wie versunken, als dächte er an etwas anderes, etwas Trauriges.
Ich wußte nicht, was das zu bedeuten hatte, zumal ich ihn auch nicht besonders gut kannte. Und wenn Jamie über ihn sprach, schien sie sowieso einen ganz anderen Menschen zu beschreiben. Ich konnte mir Hegbert mit einem Sinn für Humor genausowenig vorstellen wie einen Himmel mit zwei Monden.
Jedenfalls war er ins Zimmer gekommen, während wir das Geld zählten. Als Jamie aufstand, hatte sie Tränen in den Augen, und er schien gar nicht zu bemerken, daß ich da war. Er sagte, er sei stolz auf sie und habe sie lieb, doch dann ging er wieder in die Küche und arbeitete weiter an seiner Predigt. Er hatte nicht einmal hallo gesagt! Klar, ich war nicht unbedingt der frömmste Junge in der Gemeinde, aber trotzdem fand ich, daß er sich etwas seltsam verhielt.
Während ich so über Hegbert nachdachte, warf ich Jamie neben mir einen Blick zu. Sie sah aus dem Fenster, der Ausdruck in ihrem Gesicht war friedlich und gleichzeitig ganz entrückt. Ich lächelte. Vielleicht weilten ihre Gedanken bei mir. Meine Hand bewegte sich über den Sitz auf ihre zu, aber bevor ich zugreifen konnte, durchbrach Jamie das Schweigen.
»Landon«, sagte sie und sah mich an. »Denkst du manchmal über Gott nach?«
Ich zog meine Hand zurück.
Also, wenn ich über Gott nachdachte, dann stellte ich ihn mir wie auf den Gemälden in der Kirche vor als einen Riesen, der über dem Land schwebte, mit einem weißen Gewand und wallendem Haar, und mit denn Finger deutete -, aber ich wußte, daß sie das nicht meinte. Sie sprach von der göttlichen Vorsehung. Es dauerte einen Moment, bevor ich antwortete.
»Klar«, erwiderte ich. »Manchmal schon.«
»Fragst du dich manchmal, warum die Dinge sind, wie sie sind?«
Ich nickte zögernd.
»Ich denke in letzter Zeit viel darüber nach.«
Mehr als sonst? wollte ich fragen, ließ es aber. Es war klar, daß sie
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