Zeit im Wind
Eltern nicht. Jamie hingegen lachte, was ich als gutes Zeichen wertete.
Nach dem Essen schlug ich Jamie vor, ein bißchen in den Garten zu gehen, obwohl es Winter war und nichts blühte. Sie willigte ein, also zogen wir unsere Mäntel an und traten in die kühle Luft hinaus.
»Deine Eltern sind wunderbare Menschen«, sagte sie zu mir. Wahrscheinlich hatte sie sich Hegberts Predigten nicht zu Herzen genommen.
»Sie sind ganz nett«, sagte ich, »auf ihre Weise. Besonders meine Mutter, sie ist sehr lieb.«
Ich sagte das nicht nur, weil es der Wahrheit entsprach, sondern auch, weil meine Freunde das gleiche über Jamie sagten. Ich hoffte, sie würde den Wink verstehen.
Sie blieb stehen und betrachtete die Rosensträucher. Sie sahen aus wie knotige Stöcke, die sie wohl kaum interessieren konnten.
»Stimmt das mit deinem Großvater?« fragte sie mich.
»Die Geschichten, die die Leute sich über ihn erzählen?« Offenbar hatte sie den Wink nicht verstanden.
»Ja«, erwiderte ich, bemüht, meine Enttäuschung zu verbergen.
»Das ist traurig«, sagte sie schlicht. »Im Leben gibt es anderes außer Geld.«
»Ich weiß.«
Sie sah mich an. »Wirklich?«
Ich sah ihr nicht in die Augen, als ich ihr antwortete. Ich hatte keine Ahnung, warum nicht.
»Ich weiß, daß das, was mein Großvater getan hat, falsch war.«
»Aber du willst es nicht zurückgeben, oder?«
»Darüber habe ich nie nachgedacht, ehrlich gesagt.«
»Würdest du es zurückgeben?«
Ich antwortete nicht sofort, und Jamie wandte sich ab. Sie stand mit versunkenem Blick vor den Rosensträuchern beziehungsweise Knotenstöcken, als mir bewußt wurde , daß sie wollte, daß ich ja sagte. Sie hätte sofort ja gesagt, ohne lange darüber nachzudenken.
»Warum machst du das?« platzte ich heraus, bevor ich mich bremsen konnte, und errötete. »Warum machst du mir ein schlechtes Gewissen? Ich habe das doch nicht getan. Ich gehöre einfach nur zur gleichen Familie.«
Sie streckte die Hand aus und berührte einen Ast.
»Du kannst es aber trotzdem wiedergutmachen«, sagte sie sanft, »Wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.«
Ihre Argumentation war einleuchtend, sogar mir, und insgeheim wußte ich, daß sie recht hatte. Aber diese Entscheidung, wenn ich sie je zu treffen hatte, lag in weiter Ferne. Ich war der Auffassung, daß ich viel wichtigere Dinge im Kopf hatte. Ich wechselte zu einem Thema, mit dem ich mehr anfangen konnte.
»Kann dein Vater mich leiden?« fragte ich. Ich wollte wissen, ob Hegbert es erlauben würde, daß ich sie wiedersah.
Es dauerte einen Moment, bevor sie antwortete.
»Mein Vater«, sagte sie langsam, »macht sich um mich Sorgen.«
»Tun das nicht alle Eltern?«
Sie senkte den Blick auf die Füße, sah zur Seite und hob dann die Augen wieder zu mir.
»Ich glaube, bei ihm ist es etwas anderes. Aber er mag dich, und er weiß, daß es mich glücklich macht, wenn wir uns sehen. Deswegen hat er mir erlaubt, heute zum Essen zu euch zu kommen.«
»Darüber bin ich froh«, sagte ich aufrichtig.
»Ich auch.«
Wir sahen uns unter der zunehmenden Mondsichel in die Augen. Beinahe hätte ich sie in dem Moment geküßt, aber sie wandte sich ein bißchen zu früh ab und sagte etwas, das mich fast aus der Bahn warf.
»Mein Vater macht sich auch um dich Sorgen, Landon.« Die Art, wie sie es sagte - sanft und traurig zugleich - , machte mir deutlich, daß es nicht nur darum ging, daß ich verantwortungslos war oder daß ich mich früher hinter Bäumen versteckt und ihm Wörter hinterhergerufen hatte, auch nicht darum, daß ich zur Familie Carter gehörte.
»Warum?« fragte ich.
»Aus dem gleichen Grund wie ich auch«, entgegnete sie. Weiter sagte sie nichts dazu, und ich wußte, daß sie mir etwas verschwieg, etwas, das sie mir nicht sagen durfte und das sie traurig machte. Aber ich erfuhr ihr Geheimnis erst später.
In ein Mädchen wie Jamie Sullivan verliebt zu sein war zweifelsfrei die seltsamste Erfahrung, die ich je gemacht hatte. Nicht nur hatte ich bis zu dem Schuljahr - obwohl wir zusammen aufgewachsen waren - nie an sie gedacht, sondern auch die Art, wie meine Gefühle entstanden waren, war so ganz anders. Während ich Angela gleich beim ersten Mal, als wir allein waren, geküßt hatte, hatten Jamie und ich uns überhaupt noch nicht geküßt. Ich hatte sie auch noch nicht in den Arm genommen oder war mit ihr zu Cecil's Diner oder ins Kino gegangen. Ich hatte nichts von alldem gemacht, was ich sonst mit Mädchen machte, und doch
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