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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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Es gab Menschen mit Halsband und Leine, gewöhnlich von ihren Vampir-Herren zu zweit oder dritt geführt; und es gab Menschen in Wagen – meist fünf bis zehn in einem Karren –, die von Neuromenschen in Uniform zu einem großen Tor vor der Inneren Stadt gezogen wurden. In der Mitte der Inneren Stadt stand die Burg, dunkel und blind aufragend wie ein Pavor nocturnis.
    Lon und Jasmine gingen anfangs einfach durch die Straßen, um sich einzufühlen, Ausgänge, Verstecke, Kneipen auszumachen. Ein kleiner Nebenfluss des Sticks strömte unter der östlichen Wand der Außenmauer hindurch und durchschnitt die Stadt fast genau in der Mitte. Eine Anzahl Brücken überspannte den Nebenfluss. Sie verbanden die nördliche Hälfte der Enklave mit der südlichen. Jasmine und Lon prägten sich die Lage aller Brücken ein. Eine Weile hielten sie sich am Haupteingang zur Inneren Stadt auf, verfolgten, wer hinein- und hinausging, achteten auf Handzeichen und Losungsworte. Eine fünf Meter hohe Ziegelmauer verwehrte den Blick in die Stadt, aber es hatte den Anschein, dass nur Neuromenschen und ihre menschlichen Gefangenen aus und ein gingen. Vampire hielten sich von der Innenmauer fern. Lon wäre am liebsten hinaufgeflogen, um hineinzublicken, aber niemand sonst erhob sich in die Luft. Offenbar war das verboten.
    Sie beschlossen, sich zu trennen. Lon sollte in der Außenstadt bleiben, um nach Bal zu suchen und sich weiter umzusehen. Jasmine sollte die Innere Stadt betreten, Kenntnisse sammeln, in die Burg selbst gelangen, wenn das möglich war.
    Sie gedachten sich in der Abenddämmerung vor dem Eingangstor wieder zu treffen.
    Sie sahen einander zärtlich an und umarmten sich.
    »Fast wie in alten Zeiten«, flüsterte Jasmine.
    »Man könnte sich beinahe wünschen, wir würden wieder schmuggeln.«
    »Das kommt vielleicht noch«, meinte sie lächelnd. »Konterbande Menschen.«
    »Bis später.« Sie trennten sich.
     
    »Eurydice, komm her.«
    Dicey stand auf und ging zu dem Polster, auf dem Bal saß.
    »Ja, mein Blut«, sagte sie.
    »Mach mir die Nägel!« befahl er.
    »Welche Farbe, mein Blut?« fragte sie.
    »Rotgelb, denke ich.« Er sah von seinem Buch nicht auf.
    Sie verbeugte sich.
    »Ja, roter Gebieter.« Sie glitt zum Frisiertisch, um den aprikosenfarbenen Nagellack zu holen. Die kleinen Glöckchen an ihren goldenen Knöchelketten klirrten leise.
    Bal betrachtete sie über sein Buch hinweg – den weißen, biegsamen Leib, die klassische Schönheit tiefliegender Augen, blasser Lippen, geröteter Wangen; den schönen Schmuck an Hals, Handgelenken und Fesseln. Rings um den Halsansatz waren tausend reinseidene Fäden in ihre Haut eingenäht und hingen lose fließend auf den Boden herab. Bal war zufrieden.
    Sie kam zurück und setzte sich zu seinen Füßen, begann sorgfältig die Nägel an jeder seiner acht Zehen zu lackieren.
    »Was lest Ihr?« fragte sie.
    »›Die Neue Welt.‹ Das Manifest der Königin.«
    »Darf ich es auch lesen, wenn Ihr fertig seid?«
    »Das ist kein Buch für dich, Eurydice. Es würde dich nur verstören.«
    Sie hob seine Ferse zwischen ihren Beinen hoch, während sie weiter seine Zehennägel lackierte.
    Er klingelte mit einer kleinen gläsernen Glocke, die neben ihm auf dem Tisch stand. Ein Knabe – nackt bis auf die herrlich gefassten Edelsteine, die in seine Haut eingenäht waren und Brust und Gesicht schmückten – kam rasch herein und brachte auf einem Silbertablett Rosenlikör. Bal griff nach dem Glas.
    »Danke, Ollie, du kannst gehen. Ach, warte, bring auch ein Glas für deine Schwester.« Ollie verbeugte sich, lief hinaus und kam sofort mit einem Becher für Dicey zurück.
    »Danke, Ollie«, sagte sie.
    Seine einzige Antwort war ein glasiger Blick. Er verließ den Raum.
    Dicey trank, schloss die Augen und presste die Schenkel um Bals Fuß zusammen.
    »Nehmt mich«, hauchte sie.
    Bal las weiter.
    »Ich habe dich gestern fast ausgesaugt«, sagte er monoton. »Du brauchst mindestens eine Woche, bis du dein Hämoglobin erneuert hast, das weißt du inzwischen. Ich nehme heute Abend Angie oder Michael.«
    Sie rieb flehend seinen Schenkel.
    »Aber es ist am schönsten, wenn – wenn ich – wenn ihr mich beinahe zu – wenn es beinahe zuviel ist – wenn ich ohnmächtig werde und Ihr noch immer trinkt, wenn ich direkt am Abgrund stehe und in die ewige Schwärze hinabschaue, wenn nur noch Eure Lippen mich zurückhalten – das liebe ich, bitte, Bal« – sie schob ihre Hand an seinem Schenkel höher –

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