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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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fremdartige und beunruhigende Dinge. Alte Träume und Ängste wurden lebendig, mythische Wesen, Verlockungen und Qualen aller Art. Dann sah ich dich, Jasmine. In einem Garten. Du sprachst mit einer gefiederten Schlange.«
    »Das war ich wirklich«, erwiderte sie. »Die Schlange sprach zu mir von der Zeit.«
    »So ist es.« Lon nickte. »Ich rief dich, aber du hast mich nicht gehört. Ich ging auf dich zu, konnte dich aber nicht erreichen – zuerst trennte uns ein tiefer Hohlweg, dann konnte ich nicht fliegen. Ich versuchte auf einer Planke hinüberzugehen, stürzte aber. Ich erhob mich mit großer Mühe, aber es war nicht zu erkennen, wie ich dich am besten erreichen sollte. Ich näherte mich aus einer Richtung, aber so schnell ich auch ging, ich kam nicht voran. Ich versuchte es von der anderen Seite und verlor die Richtung. Endlich taumelte ich in den Garten – fast zufällig, bemüht, einem stürzenden Baum auszuweichen – und du warst fort.
    Ich suchte eine ganze Stunde und sah euch in dieser Zeit alle kurz auftauchen, einmal hier, einmal dort in der Ferne.
    Es wurde Nacht, und ich wollte Summina keine Angst machen – ich wollte ihr sagen, dass es eine Weile dauern mochte, bis ich euch finden konnte, aber dass ihr hier wäret und alles gut sei. Ich stieg wieder in die Höhlen, ging den Fluss entlang und durch den Wasserfall. Als ich in den abendlichen Urwald trat, wurden zwei Dinge erkennbar, das eine beunruhigend, das andere tief erschreckend.
    Erstens war Summina verschwunden. Das wunderte mich, weil ich sie gebeten hatte, auf mich zu warten. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass der Dschungel anders aussah als noch einige Stunden zuvor – wilde Orchideen am Fluss, wo vorher keine gewesen waren, eine neue Flußbiegung, ein Haufen mit Riesenameisen. Ich hob die Hand, um mich am Kinn zu kratzen, und erschrak: Ich hatte einen Bart!
    Und keinen gewöhnlichen. Ich muss erwähnen, dass ich einmal fünfzig Jahre lang meinen Bart wachsen ließ. Er wuchs nicht rasch, aber gleichmäßig. Vier Zentimeter im Jahr, mit der Genauigkeit eines Uhrwerks. Nun, als ich auf den Bart hinunterblickte, der mir dort gewachsen war, blieb mir das Herz stehen. Der Bart war einen halben Meter lang – über zehn Jahre! Ich suchte nach anderen Erklärungen, aber es gab keine. Zehn Jahre. Unsinnig, gewiss, aber nicht zu widerlegen.
    Es blieb nichts anders übrig, als wieder hineinzugehen.«
    Die anderen hörten gebannt zu. Jasmine streichelte Beauty, der immer noch geschwächt am Feuer lag. Josh schärfte nebenbei seine Klinge an einem flachen Stein. Isis lag reglos wie eine Sphinx. Wass hatte die Augen geschlossen. Aber alle hörten im Nachtwind zu.
    »Ich ging also zurück«, fuhr Lon fort. »Und wanderte ein ganzes Jahr.«
    »Ein Jahr!« entfuhr es Josh.
    Lon nickte.
    »Ich sah in dieser Zeit vieles. Den Wandel der Jahreszeiten, das Drama vieler Leben. Ich erforschte die ganze Stadt und drang in die verborgensten Winkel ein. Im stillen Wasser der vielen Teiche spiegelte sich meine Seele wider. Ich sah auch euch ab und zu, konnte aber nie zu euch gelangen. Sie, Joshua, als Sie in einer Bücherei Asche lesen wollten. Dich, Jasmine, als du Beauty liebtest.« Sie senkten alle die Lider. »Ich stieß auf einen Neuromenschen mit zwei Gesichtern, der Janus hieß. Er erzählte mir, die ganze Stadt befinde sich in einem Mahlstrom, der mit Lichtgeschwindigkeit wirble, er enthalte All-Zeit und Nicht-Zeit, ich würde nie fortgehen können und niemals sterben. Ich traf Teufel und Engel. Ich ritt auf Photonen und kämpfte mit Ungeheuern. Ich erstickte. Ich trat mit mir selbst zusammen.
    Und schlagartig, nachdem ein ganzes Jahr vergangen war – es kam mir vor wie tausend –, sah ich euch wieder, alle drei. Ihr seid zu den Höhlen gelaufen, Josh voran. Ich jagte hinterher. Ihr seid nicht weit vorausgewesen. Ich konnte euch dreißig Meter vor mir durch den Wasserfall springen sehen. Als ich hinausstürzte, seid ihr fortgewesen, nirgends mehr zu sehen. Ich suchte rasch die Umgebung ab und fand eure Spur. Sie war höchstens ein, zwei Tage alt. Als ich mein Gesicht befühlte, war mein Bart nur einen, eineinhalb Zentimeter lang. Drei oder vier Monate konnten erst vergangen sein, nachdem Summina mich hierhergebracht hatte. Und plötzlich kam Summina tatsächlich dahergeflogen – und führte mich wieder in den Urwald hinein, eurer Fährte nach.
    Was dann geschah, weiß ich nicht, und ich werde es wohl nie wissen. Aber so fand ich eure

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