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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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dreiköpfigen Zerberi hatte ihre Witterung aufgenommen.
    Es hatte keinen Zweck, an die Mauerkrone zu denken, bis sie oben war. Und hinauf kam sie nur auf eine einzige Weise. Sie fuhr die Krallen aus, sprang zur ersten Stelle hinauf, wo sie Halt fand, und begann mit erhobenem Kopf hinaufzuklettern.
    Sie brauchte nicht lange für die dreißig Meter. Sie suchte nach den Drähten, von denen Jasmine gesprochen hatte, um ihnen auszuweichen. Sie waren sofort erkennbar, alle sechzig Zentimeter einer, hinüberreichend zur Festung. Die Burg wirkte abschreckend und behaglich zugleich. Sie war dunkel und unheimlich, uneinnehmbar, aber alle Fenster waren beleuchtet und wirkten einladend. Die ganze Stadt funkelte im Licht von Straßen- und Hauslaternen. Isis blieb ruhig hocken und beobachtete alles.
    Sie zuckte mit den Ohren, ließ den Blick durch die Runde gleiten, spähte mit ihrem Katzensinn. So saß sie eine Stunde lang. Dann kletterte sie lautlos die Innenseite der Mauer hinunter.
     
    Die vier Gestalten gingen langsam durch die Schatten. Das Wasser war hier nur Zentimeter tief und rann über die kalten Steine. Es spritzte unter ihren Füßen auf, jeder Schritt hallte oftmals wider.
    In regelmäßigen Abständen kamen sie an Glühbirnen vorbei. Hier blieben sie stehen und betrachteten die Pläne, um Ort und Richtung zu bestimmen, die Wand mit einem Pfeil zu markieren und leise wieder weiterzugehen.
    Tunnels zweigten ab, hörten auf, mäanderten. Alles war schattenhaft. Josh spürte, dass ihn seine Augen schmerzten, seine Nerven, seine Ohren. Seine Ohren. Er lauschte angestrengt und glaubte etwas zu hören.
    »Was ist das?« flüsterte er.
    »Was ist was?« fragte Wass.
    »Schritte«, wisperte Josh. »Irgendwo hinter uns.«
    Sie erstarrten.
    »Ich höre nichts«, sagte Wass.
    »Nein, er hat recht«, flüsterte Lon. »Ich habe sie auch gehört, aber jetzt sind sie verstummt.«
    Sie lauschten alle. Bis auf das schwache Rauschen des Wassers war nichts zu hören.
    Sie gingen vorsichtig weiter. Diesmal hörten sie es alle – das gedämpfte Stampfen und Spritzen der Schritte in der undurchdringlichen Schwärze hinter ihnen. Ganz plötzlich verklangen die Geräusche wieder.
    »Zweibeiner, glaube ich«, flüsterte Jasmine.
    Wass und Jasmine zogen ihre Skalpelle heraus. Josh hatte das Messer in der Hand. Lon markierte die Stelle mit einem Pfeil. Sie gingen weiter.
    Zwei Biegungen lang blieb es ruhig, dann waren die Schritte wieder zu hören. Danach ein neues Geräusch, ein leises Scharren, ganz kurz. Die Jäger – oder waren sie jetzt Gejagte? – blieben stehen. Die unheimlichen Schritte hallten in der Ferne wider, näher vielleicht, dann wieder schwächer. Sie hörten auf, das Scharren wiederholte sich, die Schritte wurden laut und verklangen ganz.
    »Kommt«, sagte Jasmine und schaute sich um. Sie führte sie zum nächsten trüben Licht, das zwanzig Meter entfernt war. Sie blieben dort stehen, um den Plan zu betrachten.
    Hier kreuzten sich sechs große Tunnels; manche wurden von starker Strömung durchflossen, zwei waren trocken.
    Jasmine zeichnete einen Pfeil an die Wand.
    »Hier trennen wir uns«, sagte sie, den Blick auf den Plan gerichtet. Josh behielt Blaupause und Tunnel gleichzeitig im Auge. »Wass und ich nehmen diese Richtung«, fuhr Jasmine fort und wies nach rechts, »ihr geht diesen Kanal hinauf zu Bals Haus.« Sie zeigte in eine kleinere, trockene Röhre.
    Joshuas Mund war wie ausgetrocknet. Unbekannte Gefahren erwarteten ihn. Er befeuchtete sich die Lippen.
    »Gute Jagd«, flüsterte er und drückte Jasmines Hand mit der Linken, die von Wass mit der Rechten.
    Jasmine war aufgeputscht. Sie hatte diese Rolle in ihrem Leben schon so oft gespielt, aber die letzten Augenblicke glichen stets einer Premiere. Hinter allem lag jedoch tiefe Ruhe in ihr. Sie erwiderte den Druck von Joshuas Hand.
    »Es gibt kein Glück, nur Bestimmung«, sagte Wass. »Aber ich wünsche uns allen viel Glück.«
    Lon warf einen letzten Blick auf die Pläne. Jasmine überprüfte ihre Lampe. Josh erstarrte plötzlich; er spürte etwas in seiner Nähe. Im nächsten Augenblick war auch Lon regungslos und starrte in die Dunkelheit. Ein Schatten glitt über Jasmines Gesicht. Aus dem gegenüberliegenden Tunnel trat langsam der Minotaurus.
    Er stand aufrecht – fast zweieinhalb Meter groß – mit dem Körper eines Mannes und dem Kopf eines Stieres. Ein riesiger Mann, ein wilder Stier. Er stand regungslos und lächelte grimmig die vier an, die vor ihm im

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