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Zeit und Welt genug

Titel: Zeit und Welt genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Kahn
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Licht standen. Langsam hob er die mächtige Hand an die Wand, wo sie leise scharrte. Als er die Hand senkte, konnten die anderen sehen, dass er einen Kreidepfeil gemalt hatte.
    Das Untier trat lächelnd zum nächsten Tunnel, wo es wieder einen Pfeil malte, der in eine ganz andere Richtung zeigte. Dann ein dritter Pfeil an der Mündung des dritten Tunnels. Das Scharren, das sie vorher gehört hatten, war ihnen gefolgt – durch wie viele Kanäle?
    Der Mund des Minotaurus stand offen. Speichel rann herab, während er beobachtete, wie die Gesichter der anderen ihr Begreifen zeigten. Er stieß plötzlich ein irres Gelächter aus, dann senkte er den Kopf, stürmte mit unglaublicher Geschwindigkeit heran, zerfleischte Wass halb mit seinen riesigen Hörnern und kehrte zu seinem alten Platz zurück.
    Die anderen standen wie gelähmt, als Wass zusammenbrach. Ihr Bauch war völlig aufgerissen, ihr roter, öliger Lebenssaft rann ins Wasser. Ihre Augen blieben offen, aber sie war tot. Das schnellfließende seichte Wasser spülte ihren zerschlitzten Körper den Tunnel hinunter, bis er verschwand. Der Minotaurus warf den Kopf zurück und lachte wieder kurz und irr auf.
    In diesem Augenblick schleuderte Josh sein Messer, Jasmine löschte das Licht, und sie stoben auseinander. In der Dunkelheit hörte man ein ersticktes Fauchen, ein Schlurfen von Füßen, ein Knurren, ein Krachen. Ein Lampenstrahl zuckte auf, huschte über ein grauenhaftes, dunkelrotes Auge, erlosch. Josh hörte, wie ein Körper an die Wand geworfen wurde. Zwei Lampen blitzten. Ein Strahl fiel auf Lon, der seitlich am Körper blutete; der zweite fiel auf das grausige Gesicht des Minotaurus. Das Wesen kniff die Augen zusammen und stürzte auf das Licht zu. Die Lampe erlosch.
    Josh sprang zu dieser Stelle. Er prallte mit einem gigantischen muskelbepackten Körper zusammen, spürte den heißen Atem des Wesens im Gesicht. Er stieß mit dem Skalpell in das Fleisch hinein, als ein gewaltiger Arm ihn umfasste, zusammenpresste, zu Boden warf.
    Augenblicke lang klatschte und polterte es, dann herrschte Stille.
    Josh hob den Kopf aus dem Wasser. Stille. Er schüttelte das Wasser aus den Ohren.
    »Lon?« sagte Jasmines Stimme rechts neben Joshua.
    »Ja«, tönte es erstickt zurück.
    »Ist es vorbei?« fragte Josh.
    Die beiden Lampen flammten auf. Lon leuchtete Josh an, dann Jasmine, die an einer Nische kauerte. Jasmine richtete den Lichtstrahl auf Lon.
    »Du bist verletzt«, stieß sie hervor.
    Er hatte eine tiefe Wunde an der rechten Körperseite, die stark blutete.
    »Es ist nichts. Wo ist das Ungeheuer?«
    Sie leuchteten die Umgebung ab, bis sie das am Boden liegende Untier fanden. Der Minotaurus lag auf der Seite, halb im Wasser, halb in einem trockenen Tunnel. Joshuas Messer steckte schräg in seiner Kehle; Lons Krallen hatten tiefe Spuren über ein Auge und die große schwarze Nase gezogen; seine Hand war durchbohrt von Jasmines Skalpell, seine Schulter von Joshuas Messer. Er war tot.
    »Dein erster Wurf hat schon gewirkt, Joshua«, sagte Jasmine. »Er kämpfte nur aus Wut weiter.«
    Lon setzte sich an der Wand auf.
    »Wir haben noch einmal Glück gehabt«, sagte er leise. Er zitterte.
    Sie traten zu ihm und untersuchten sich gegenseitig. Lons Blutung ließ nach – der Bauch war von einer Hornspitze des Minotaurus durchbohrt worden, aber wie schwer die Verletzung war, ließ sich nicht auf Anhieb feststellen. Jasmine war unberührt. Josh hatte mehrere schwere Blutergüsse, die Haut an seinem linken Arm war aufgeschürft, aber sonst schien er keine Schäden davongetragen zu haben.
    »Wass ist tot«, sagte Jasmine dumpf. Ihre Freundin, zweihundert Jahre lang.
    Lon richtete den Lichtstrahl auf das Ungeheuer in der Ecke, das noch im Tod erschreckend wirkte.
    »Wir haben Glück gehabt«, wiederholte er.
    Sie starrten eine Weile vor sich hin. Neuromenschen konnten nicht weinen, aber innerlich litt Jasmine Qualen. Es kam ihr vor, als hätte man ihr ein großes Stück herausgerissen. Sie versuchte die Lücke mit Entschlossenheit zu stopfen, auch mit Zorn, aber das Loch war groß und noch nicht auszustopfen. Wass war nicht mehr da. Joshuas Zittern ließ nach. Es war knapp gewesen, aber sie hatten den Sieg davongetragen und waren um einen Teufel näher an Dicey herangerückt. Er holte tief Luft. Er war bereit zu allem.
    »Also, gehen wir weiter«, sagte Lon. »Dschasmihn, du gehst allein zum Kraftwerk. Joshua, wenn du glaubst, dass du deine Leute bei Bal allein retten kannst,

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