Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
bekommen. Alle sechs Kleider sollen in zehn Tagen geliefert sein. Lauter Kundinnen, nach denen sich andere Schneiderinnen die Finger lecken, und alle sechs haben mir einen großen Vorschuss gegeben. Stoffe aus Holland sind eben nicht billig.« Sie stockte, schniefte und fuhr fort: »Und jetzt ist der Salon Franziska pleite. Heute Geld und Stoffe weg und morgen die Kundinnen.«
»Und kannst noch froh sein, wenn sie dich nicht anzeigen«, sagte Martin Reitzak. »Wir kleinen Leute kommen nie auf einen grünen Zweig.«
»So geht’s uns Reitzaks eben«, rief Leo. »Ich fliege aus allen Lehrstellen und meine Schwester fliegt mit ihren großen Plänen auf die Schnauze.«
»Und was ist mit Jaap?«, fragte Paul. »Kann der nicht neue Stoffe beschaffen?«
»Kann er«, sagte Franziska. »Aber Jaap ist nicht die Caritas. Er liefert nur gegen Bargeld und ich weiß nicht einmal, wie ich den Kundinnen den Vorschuss zurückzahlen soll.«
»Und der Kathi schuldest du auch noch den Lohn für diese Woche«, sagte Leo.
»Hör auf, deine Schwester zu quälen«, wies ihn Frau Reitzak zurecht.
»Lass ihn, Mutter.« Franziska wischte sich die Tränen aus den Augen und setzte sich die Brille wieder auf. »Er sagt nur, was wirklich stimmt.« Sie stand auf. »Ich werde die Maschinen verkaufen müssen und aus ist der Traum.«
»Ich werde dir helfen«, sagte Paul entschlossen. Er ging in die Schlafkammer, kramte in seiner Kiste und kam mit dem schmalen grünen Sparbuch in die Küche zurück. Das warf er Franziska zu. »Wird doch immer weniger wert«, sagte er. »Wenn dein Salon wieder gut geht, kannst du’s mir ja zurückzahlen.«
»Aber du hast Franziskas Schneiderei doch immer mit scheelen Augen angesehen«, stieß Martin Reitzak verwundert hervor. »Am liebsten wäre es dir gewesen, sie hätte das Geschäft an den Nagel gehängt und dich geheiratet.«
»Stimmt«, gab Paul zu. »Aber ich habe gesehen, was der Franziska das alles bedeutet. Das Geschäft, das Entwerfen der Kleider, das Schneidern. Und dann habe ich mir gedacht: Paul, was für eine Franziska willst du eigentlich? Etwa eine, die du dir selbst ausdenkst? Die du dir hinbiegst, wie du sie haben willst, oder …«
»Na, was oder?«, drängte Leo.
»Oder liebst du diese Franziska Reitzak, wie du sie kennst?« Er schwieg verlegen. »So wie sie eben ist, meine ich«, fügte er hinzu.
»Und?«, fragte Franziska und ein kleines Lachen zuckte um ihre Lippen.
»Na, Franziska, du weißt es doch längst. Ich will dich heiraten, mit oder ohne Schneiderei.«
»Ich dich auch«, sagte Franziska und legte den Arm um ihn.
»Einen Nieter will sie und lässt eine gute Partie, lässt den Hermann Cremmes mit seiner sicheren Stelle laufen.« Der alte Reitzak schüttelte den Kopf.
Frau Reitzak sagte gar nichts. Sie fühlte sich elend und müde. Ihr jüngster Sohn Leo war ihr entglitten und trieb sich mit seinen radikalen Parteigenossen herum. Hans, ihr Ältester, war gefallen, dem Martin hatte sie das Haus verboten und jetzt wollte Franziska einen Katholiken heiraten. »Ich verstehe die Welt nicht mehr«, seufzte sie. »Früher war es so, dass die Eltern an ihre Kinder weitergeben konnten, was sie liebten. Wenn die Kräfte der Älteren nachließen, trat die neue Generation an ihre Stelle. Das Tempo mag sich dann wohl geändert haben, die Richtung jedoch blieb im Großen und Ganzen gleich. Aber wir, wir sind doch keine Familie mehr. Jeder sucht seine eigenen Wege und wir entfernen uns immer weiter voneinander.« Sie drückte den Teig in die Kastenform. »Bring das zum Abbacken zum Bäcker«, sagte sie leise zu Leo.
Franziska ging zu ihr und berührte ihren Arm. »Nie werde ich mich von dir entfernen, Mama«, sagte sie.
»Ist gut, Kind.« Frau Reitzak schüttete Wasser in die Schüssel und wusch sich die Hände. »Und ein schlechter Kerl ist er nicht, dein Paul.«
Wenig später sandte Franziska ein Telegramm nach Arnheim und bot Jaap viele Millionen Küsse an. Am Montag in Emmerich. Und diesmal brachte sie ihre schweren Koffer unbehelligt bis in ihre Werkstatt.
29
»Seit die Rechten im Sommer unseren Außenminister, den Walter Rathenau, ermordet haben, geht es abwärts«, sagte Steiner. Er saß in der Werkstatt auf der Hobelbank und rauchte hastig eine Zigarette.
»Meinen Sie damit, dass die Mark von Tag zu Tag weniger wert ist?«, fragte Kaplan Klauskötter.
»Ein Pfund Zucker kostete gestern hundertfünfundzwanzig Mark«, sagte Bruno. »Im Sommer hat man es noch für fünfzehn
Weitere Kostenlose Bücher