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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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und eine wohlige Wärme verströmte.
    Kaum saßen Paul und Franziska, die Gepäckstücke in ihrem Blickfeld aufgeschichtet, da rappelte sich einer der Schläfer auf und trat an ihren Tisch. »Zahlt ihr mir eine Tasse Kaffee?«, bettelte er. Die großen Augen unter einer schmutzigen Schlägermütze waren auf Paul gerichtet, aber der Blick blieb gleichgültig.
    »Wie alt bist du?«, fragte Franziska.
    »Fünfzehn«, antwortete der Junge und zog den Gürtel seines viel zu großen Mantels straffer. In einem Leierton begann er zu sprechen, ähnlich wie ein schlechter Fremdenführer, der zum tausendundersten Mal seinen Spruch aufsagt. »Mein Vater liegt dahinten in der Ecke. Er ist wieder mal blau. Meine Mutter ist mit einem anderen Kerl durchgebrannt. Aus der Wohnung sind wir rausgeschmissen worden, Arbeit finden wir keine.«
    »Ist gut, ist gut«, unterbrach ihn Paul. »Von deiner kranken Oma brauchst du nichts mehr zu erzählen. Lass dir einen Kaffee machen. Ich zahle. Meine Verlobte gibt dir eine Schnitte von unserem Reisebrot. Aber verschone uns mit deinen Sprüchen.«
    Der Junge ging an die Theke und klopfte mit dem Knöchel auf die Holzplatte. Die Wirtin schreckte auf.
    »Warum fährst du ihn so an?«, fragte Franziska. »Dem Bruno hätt’s ähnlich ergehen können.«
    Paul brummte: »Glaube dem Burschen nicht ein Wort, Franziska. Das klang alles wie auswendig gelernt. Jeden Tag begegnen dir Bettler und jeder erzählt von seinem Elend. Erfunden das meiste, sage ich dir.«
    »Na, ich weiß nicht«, sagte Franziska. Sie packte eine große Doppelscheibe Brot aus. Der Junge trug die Tasse Kaffee geschickt durch den Wartesaal, nahm das Brot und setzte sich wieder in seine dunkle Ecke.
    »Danke hättest du schon sagen können!«, rief Paul hinter ihm her, aber der Junge schaute sich nicht einmal mehr um.
    »Sie sollten ne Gewerkschaft aufmachen, die Bettler«, knurrte Paul. »Hätten sicher noch mehr Mitglieder als unser Metallarbeiter-Verband.«
    »Du übertreibst«, sagte Franziska.
    Die Wirtin schlurfte heran. Sie trug heruntergetretene Kamelhaarpantoffeln.
    »Auch Kaffee?«, fragte sie und gähnte.
    »Ja«, sagte Paul. »Und einen doppelten Schnaps dazu.«
    »Alkoholausschank ist erst ab mittags um zwei erlaubt«, antwortete die Wirtin, brachte aber dann doch nicht nur den Kaffee. Paul zahlte.
    »Wir hätten das Geld auch sparen können«, sagte Franziska. »In ein paar Stunden sind wir zu Hause.«
    »Geizkragen!«, antwortete Paul. »Es wird auf der Werft doch schon seit Tagen gearbeitet. Der passive Widerstand ist zu Ende. Bald rollt der Rubel wieder.«
    Vor dem kleinen Vorortbahnhof entdeckte Franziska das Pferdefuhrwerk von der Bäckerei Weidemann. Der Kutscher war ihr bekannt. Er erklärte sich bereit, das Gepäck für ein gutes Trinkgeld in die Blütentalstraße zu fahren.
    Franziska wollte ganz heimlich ein Frühstück für alle vorbereiten, aber kaum hatten sie die Küche betreten, da streckte Leo seinen Kopf durch die Tür. »Sie sind da!«, rief er und ließ sich nicht aufhalten und riss Brunos Zimmertür auf und klopfte an die Schlafkammer der Eltern.
    Franziska hatte noch nicht einmal ihren Mantel ausgezogen, da standen sie bereits alle in der Küche. Martin Reitzak zündete das Feuer im Herd an und rückte den Wasserkessel nach vorn auf die Platte. Paul und Franziska packten aus, was sie über tausend Kilometer weit herangeschleppt hatten.
    »Ein Festfrühstück werden wir machen!«, rief Leo und er grub vorsichtig die Eier aus dem Mehl und reichte seiner Mutter die Bratpfanne. Die schnitt Speckwürfel hinein und bald zog ein herrlicher Duft durch die Küche.
    In Georgs Abschiedspaket fanden sich zwei große ausgeweidete und abgezogene Waldhasen. »Mein Bruder kann das Wildern nicht lassen«, sagte Paul. »Das wird er am meisten vermissen, wenn er in Berlin ist.«
    »Mensch, die Biester stinken ja«, sagte Leo und hielt sich die Nase zu.
    »Dann sind sie gerade richtig«, gab Paul ihm zur Antwort.
    Manchmal redeten alle zugleich auf Paul und Franziska ein.
    »Ihr stellt euch ja an«, rief Paul, »als ob wir eine Weltreise hinter uns hätten.«
    Aber selbst Martin Reitzak fragte und fragte, wollte wissen, ob es wahr sei, dass die Reichswehr heimlich mit den Russen zusammenarbeitete, und ob das Gerücht stimme, dass die Polen gewaltsam ins Reich eindringen wollten, und ob es keine Preiselbeeren gegeben habe in diesem Herbst und, und, und …
    Nur Bruno beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Er saß dicht

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