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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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die Blumen.« Sie ging an den Küchenschrank, zog eine Schublade heraus und drückte dem Jungen ein Stück gelber Ölkreide in die Hand. »Male ein Kreuz auf das Pflaster und schreibe darunter: ›Hier starb Wilhelm Kurpek im Januar 1919. Er war noch nicht 22 Jahre alt.‹«
    Der Junge steckte die Kreide in die Hosentasche. Er sagte: »Danke, Frau Podolski«, aber sie spürte, dass er enttäuscht war.
    Er will meine Geranie, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie wandte sich wieder der Herdplatte zu. Nein, nicht die Blume, dachte sie, aber sie hörte sich anders sprechen. »Schneide sie mit der Schere ab, Bruno, aber erst später, wenn ich zum Bäcker gegangen bin. Ich will sehen, ob ich Glück habe und ein wenig Brot ergattere.«
    »Danke«, sagte Bruno. Er freute sich und zugleich war es ihm ein wenig beklommen zumute, weil er ahnte, wie stolz Frau Podolski auf ihr Winterwunder war.
    »Wenn ich je wieder nach Berlin komme, ich schwöre es, ich werde ihr einen großen Strauß von roten Rosen schenken!«, rief er laut, als Frau Podolski die Tür hinter sich zugezogen hatte.
    Es war ein windstiller Tag weit vor dem Frühling. Die Sonne schien ein wenig wässrig und war ohne Kraft. Die kleinen Grashälmchen, die sich hier und da zwischen den Pflasterfugen hervorwagten, zeigten jedoch einen ersten Hauch von frischem Grün. Die Steine waren von Schneematsch und Regen blank gewaschen, aber die dunklen Schatten in den Erdritzen zeigten dem Jungen genau die Stelle, wo das Blut seines Bruders eingesickert war.
    Mitten auf dem Platz legte er die Geranie nieder, zog die Mütze vom Kopf und nahm die Kreide aus der Tasche. Er schrieb auf das Pflaster: »Hier wurde Wilhelm Kurpek am 12. Januar 1919 ermordet. Er war noch nicht 22 Jahre alt.«
    Am Abend saßen sie um den Küchentisch. Zwei dicke Stearinkerzen hatte Frau Podolski im Schwarzhandel aufgetrieben. Paul war es gelungen, eine Halbliterflasche Schnaps zu besorgen, und Robert steuerte eine winzige Dose Kaviar bei. »Kaviar für die arbeitende Bevölkerung«, prahlte er stolz. Sie probierten alle davon, aber geschmeckt hat es keinem.
    »Ich dachte immer, Kaviar wäre pechschwarz«, wunderte sich Frau Podolski. »Aber der ist ja rostrot. Ist wohl alles jetzt rot, was aus Russland kommt.«
    »Wie Froscheier sieht das Zeug aus, schmeckt salzig und nach sonst gar nichts, Mensch«, ärgerte sich Robert. »Und dafür hab ich ’ne Krawatte eingetauscht. Vorkriegsware und echte Seide.«
    »Trägst ja sowieso nur ein rotes Halstuch«, tröstete Paul ihn.
    Eduard war nicht wieder aufgetaucht. Frau Podolski hatte bereits begonnen, sich nach einem neuen Kostgänger umzusehen.
    Sie saßen und sangen Lieder vom Abschied, tranken den Schnaps in kleinen Schlucken, erzählten auch lustige Geschichten, aber ein ausgelassenes Fest wurde es nicht.
    »Ich weiß es genau«, sagte Frau Podolski. »Ich sollte mein Herz nicht an euch Zigeuner hängen. Ihr kommt und ihr zieht weiter. Ihr seht tausend neue Dinge in der Welt und vergesst die Podolski in Berlin. Aber ich, ich bleibe hier hocken und denke an Paul, denke an den Jungen. Ich sollte das Kostgeld kassieren und damit basta.« Sie seufzte. »Das nächste Mal, Jungs, das nächste Mal hänge ich mein Herz hinter ein Eisengitter.«
    Es war ein wildes Getriebe auf dem Bahnhof. Hin und her hasteten die Menschen, fragten nach Abfahrtszeiten, stellten sich in Schlangen vor den Fahrkartenschaltern an, suchten das richtige Gleis, standen auf dem Bahnsteig in Reihen hintereinander. Frauen bewachten eine Unzahl von Bündeln, Alte hockten auf Koffern, ganze Familien scharten sich um Kisten und Körbe. Nur wenige reisten mit leichtem Gepäck.
    »Ist denn halb Berlin auf den Beinen?«, fragte Bruno.
    »Die meisten sind auf der Durchreise. Sie kommen aus dem Osten«, erklärte Paul. »Alle warten auf den Zug nach Westen.«
    »Hoffentlich kommt der bald.« Bruno reckte den Hals, aber die Menschenmassen versperrten ihm die Sicht. Ein weißhaariger Mann sagte: »Nur Geduld, junger Herr. Irgendwann wird der Zug einlaufen. Ich warte schon länger als eine Stunde. Früher, zu Kaisers Zeiten, da fuhr die Bahn auf die Minute genau. Du konntest die Uhr danach stellen. Aber heute, in der Republik, was klappt da überhaupt noch?«
    Eine dicke rothaarige Frau mischte sich ein und rief: »Und dass sie die vierte Wagenklasse bei der Eisenbahn abschaffen wollen, das ist für Sie wohl gar nichts, wie? Das ist für Sie wohl kein Fortschritt?«
    Der Mann lachte. »Die Schilder

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