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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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werden sie auswechseln, Frau. Nur die Schilder. Wo heute noch vierte Klasse geschrieben steht, da heißt es morgen vielleicht dritte Klasse. Die Waggons aber bleiben die alten.«
    Eine andere Stimme keifte. »Alles Schwindel! Zahlen musst du die Preise für die dritte Klasse. Aber wenn du Pech hast, fährst du in der vierten. Das ist der ganze Fortschritt.«
    Bewegung kam in die Menge. Endlich fuhr der Zug in den Charlottenburger Bahnhof ein. Das Zischen und Stampfen der Dampflok vermochte das Geschrei und Gekreisch, das aus tausend Kehlen aufstieg, nicht zu übertönen. Kaum hielt der Zug, da wurden Türen aufgerissen, Starke schoben Schwächere beiseite, alle drängten, schoben, stießen, versuchten, einen der Holzgriffe neben den Wagentüren zu packen, und zogen sich, wenn das gelang, zu den Abteilen empor. Erfahrenere Reisende belegten zunächst einen Platz auf der Holzbank. Andere zerrten die Fenster herunter. Gepäckstücke wurden hochgestemmt und ins Abteil gezogen. »Zusammenrücken!«, klang es von der Tür her, fordernd erst, dann wütend. Endlich: »Zurücktreten, bitte!« Türen klatschten ins Schloss, der schrille Pfiff ertönte, der Zug ruckte an. Ein letztes Winken. Die reichlich zwanzig Personen in dem großen 4.-Klasse-Abteil »Für Reisende mit Traglasten« richteten sich für die lange Fahrt ein. Die Hälfte fand Platz auf den beiden hölzernen Bankreihen an Stirn- und Rückwand des Abteils. Die anderen hockten sich, so gut es gehen mochte, zwischen die Gepäckstücke.
    »Das hätte gerade noch gefehlt«, sagte Bruno zu Paul und zeigte auf ein weißes Emailleschild, auf dem zu lesen stand: »Bitte nicht auf den Boden spucken!«
    »Was heißt das, bitte schön, Junge? Was heißt das, was auf dem Schildchen steht?«, fragte ihn eine sehr dicke alte Frau, die einen Eckplatz auf der Bank ergattert hatte. Als Bruno sie verwundert anschaute, fügte sie hinzu: »Ja, du da mit der Matrosenkappe, dich meine ich. Musst nicht glauben, ich wäre zu bequem, eine Brille auf die Nase zu setzen. Nein, das ist es nicht.« Sie lachte und fuhr fort. »Ich kann nämlich, musst du wissen, nur sehr schlecht lesen. Hab’s nie richtig gelernt. Hatte nie die Zeit dazu. Hab all meine Brüder und Schwestern aufziehen müssen. Meine Mutter starb bei der Geburt meiner jüngsten Schwester. Sieben Geschwister waren’s und alle hab ich sie groß gekriegt. Alle sieben.«
    Sie faltete zufrieden ihre Hände über einem viereckigen, aus geschälten Weiden geflochtenen Deckelkorb, den sie auf den Schoß gestellt hatte und so an sich gepresst hielt, dass ihr mächtiger Busen ihn halb bedeckte.
    Bruno schaute sie neugierig an.
    Schließlich mahnte sie ungeduldig: »Na, willst du einer alten Frau den Gefallen etwa nicht tun, Junge? Möcht halt gern wissen, was auf dem Schild steht. Wer weiß, vielleicht fahre ich in die verkehrte Richtung, weil ich ja mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze. Also lies, damit ich nichts falsch mache.«
    »Bitte nicht auf den Boden spucken«, las Bruno laut.
    Die Frau stutzte und fragte: »Bist etwa ein ganz Schlauer, mein Junge? Willst eine alte Frau verhöhnen, wie?«
    »Bestimmt nicht«, beteuerte Bruno.«
    Inzwischen waren alle im Abteil aufmerksam geworden. Die alte Frau schaute sich um und sagte: »Soll man’s denn glauben, Leute, dass man so etwas den Reisenden unter die Augen bringt? Als ob’s nicht Fenster gäbe in diesem Abteil, als ob anständige Leute nicht aus dem Fenster spucken könnten, wenn’s sie treibt.« Einige lachten inzwischen unverhohlen. »Nicht wahr, Jakob«, sagte die Alte, »das hättest du auch nicht gedacht, wie?« Sie tätschelte zärtlich mit der Hand den Weidenkorb. »Bist sicher schlauer als die meisten hier, mit Verlaub. Aber das, mein Jakob, hättest du bestimmt auch nicht gedacht.« Aus dem Korb klang ein leises Krächzen.
    »Was haben Sie da in dem Korb?«, fragte Bruno neugierig.
    »Ein feines Tierchen, sag ich dir, Junge! Ein kluges Tierchen. Blaue Augen hat’s und einen schwarzen Anzug, mausgrau abgesetzt, und schaut viel weiter mit seinen Augen, viel weiter, als jeder Mensch schauen kann.«
    »Ein Falke ist’s«, rief ein Mann, der eine Soldatenjacke trug und so um die dreißig Jahre alt sein mochte.
    »Dummkopf, mit Verlaub«, wies ihn die Alte zurecht. »Seit wann wär der schwarz?«
    »Ich mein, weil der Falke viel weiter sieht als jeder andere Vogel. Aus großer Höhe entdeckt er die Maus im Gras und stößt herab und greift sie.«
    »Mein Jakob stößt

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