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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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nicht herab und er greift keine Maus. Er schaut voraus, er durchdringt das Heute, schaut, was morgen ist, was vor dir liegt, was kommen wird. Das kann mein Jakob.«
    Sie öffnete den Verschluss des Korbes und klappte den Deckel auf. Ein Rabe hüpfte heraus, erst auf den Korbrand, dann auf ihren Arm, und schaute keck in die Runde, sperrte den Schnabel ein wenig auf und drehte den Kopf nach allen Seiten.
    »Ein Rabe!«, sagte Bruno. »Bei uns in Liebenberg hatte der Rilka einen Raben aufgezogen. Der konnte sogar zwei Wörter sprechen. ›Stara baba‹ konnte er sagen.«
    »Was heißt das?«, wollte die Frau wissen.
    »Nun, es heißt ›alte Hexe‹.«
    Wieder stieg vielen das Lachen in die Kehle.
    »Junge, hüt deine Zunge! Sollst nicht Spott treiben mit mir.«
    Bruno wehrte sich und rief. »Da, der Paul Bienmann, der kann’s bezeugen, Frau. Der ist aus unserem Dorf und er hat den Rilka gekannt und auch den Raben.«
    Paul bestätigte Brunos Geschichte.
    Wieder schaltete sich der Mann ein, der zuvor geglaubt hatte, die Frau trüge einen Falken mit sich. Er fragte und Spott klang in seiner Stimme mit: »Und dein Rabe kann also in die Zukunft schauen, wie?«
    Die Alte nickte so heftig, dass ihre Fettpölsterchen in Schwingungen gerieten, streichelte dem Raben sanft das Brustgefieder und sagte so leise, dass es bei dem Fahrtlärm nur schwer zu verstehen war: »Du kannst es, nicht wahr, Jakob? Aber wir werfen unsere Perlen nicht vor die Säue!« Sie hatte bei dem letzten Satz ihre Stimme gehoben und blickte den Mann an.
    Der hatte offenbar Lust am Streiten und sagte: »Mag ja sein, dass dein Rabe in die Zukunft sieht, Frau, aber ein Rabe ist ein Rabe und kein Mensch kann anderes bei einem solchen Vieh verstehen als das, was er ihm selbst beigebracht hat. ›Stara baba‹ zum Beispiel.«
    »Das möcht dir so passen, lieber Mann, dass du eine alte Frau in die Ecke treibst mit deiner flinken Zunge. Aber verdammt will ich sein, wenn ich mich von dir unterkriegen lasse. Und wenn du’s auch tausendmal nicht verdienst, du mit deinen bösen Worten, ich will, Halunke, ich will es hier und jetzt zeigen. Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als ein solches Kalbshirn, wie du eins im Schädel hast, sich ausdenken kann.« Ihre kleinen Augen blitzten kampfeslustig.
    Der Mann lachte laut und rief: »Na, dann nur zu, du alte Hexe! Dann führ uns vor, was dein Wundervogel alles kann!«
    Die Frau, den Vogel noch immer auf dem linken Arm, kramte mit ihrer Rechten in einer Ledertasche, die sie halb unter die Bank geschoben hatte, und zog einen länglichen Holzkasten heraus, nur wenig kürzer als der Rabenkorb, aber flacher und schmaler. Der Kasten war glänzend schwarz lackiert und der Deckel zeigte eine zierliche farbige Malerei. »In diesem chinesischen Kästchen sind die Menschheitslose«, erklärte sie. »Neunhundertneunundneunzig an der Zahl. Mein Großvater hat den Kasten aus Schanghai mitgebracht. Das liegt im fernen China. Hat sich nie getrennt von dem Kästchen, niemals, wenn’s ihm auch noch so dreckig ging.«
    Alle schauten sie erwartungsvoll an.
    »Die Lose«, fuhr sie fort, »die hat meine Mutter aufgeschrieben, als sie noch jung war. Sie hat eine alte Zigeunerin aufgenommen, die krank und klapprig auf unseren kleinen Hof kam. Im warmen Kuhstall am Ende des Ganges hat sie ihr aus weichem Juniheu und Wolldecken ein Lager gemacht. Über hundert Tage hat die weise Frau dort gelegen. Jeden Abend nach dem Melken hat sich meine Mutter ein Stündchen zu ihr gesetzt, hat ihr zu essen gebracht und einen Krug Milch hingestellt. Meinem Vater war das nicht recht. ›Lockst uns noch die ganze Sippe her. Diese Sorte riecht’s von fern, wenn es etwas zu schnorren gibt‹, hat er gemault, aber verwehrt hat er es der Mutter dann doch nicht.
    Ich war erst ein paar Monate alt und machte bereits meiner Mutter den Leib rund und schwer. War eben immer schon nicht gerade schmächtig.« Sie hielt inne, klatschte sich auf die Schenkel und kicherte in sich hinein. »Und dann hat die Zigeunerin meiner Mutter Abend für Abend neun Lebenslose vorgesprochen und die Mutter hat sie auf kleine Zettel geschrieben und in den chinesischen Kasten gelegt. In der Nacht, als meine Mutter mit mir niederkam, starb die Zigeunerin. Später hat meine Mutter die Lose gezählt und es waren neunhundertneunundneunzig. Ich weiß nicht, ob sie ihr etwas bedeutet haben, aber sie konnte sich nicht entschließen, sie wegzuwerfen. Sie gehören der Susanna, hat sie

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