Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
den Junkern und Kapitalisten schon zeigen.«
»Aber ihr seid doch auch gegen diese Republik«, wandte Bruno verwirrt ein.
»Sicher, die Räterepublik muss her. Die Diktatur des Proletariats, Junge. Die allein schafft Gerechtigkeit.«
Räterepublik, Demokratie, Monarchie, eine selbständige rheinische Republik, Diktatur – Bruno schwirrte der Kopf. »Da soll ein Mensch noch durchblicken«, murmelte er.
19
Mareks Kolonne bekam in der folgenden Woche keine Gelegenheit, über siebzig Nieten im Stundenschnitt zu erreichen. »Wieder mal Streik«, sagte Paul bitter, als er vormittags um elf bereits von der Werft heimkam.
»Aber diesmal ist er wohl nötig.«
Paul schaute überrascht zu Franziska hinüber. »Du hast gesagt, der Streik ist nötig, Franziska?«, wunderte er sich.
Sie sagte: »Willst du etwa, dass unsere Republik vor die Hunde geht, dass so ein Mann aus dem Nichts, ein Wolfgang Kapp, bestimmen soll, was in Deutschland geschieht?«
»Nein, will ich nicht. Aber wie soll ein Streik das verhindern?«
»Ich war eben auf der Post«, sagte Frau Reitzak. »Ich glaube, es ist zum ersten Mal wirklich ein Generalstreik. Kein Brief wird befördert. Nicht einmal Telegramme nehmen sie an. Selbst Cremmes steht da und hat die Hände in die Hosentaschen gesteckt. Und die Eisenbahner streiken auch. Seit gestern hat nicht ein einziger Kohlenzug die Zeche verlassen. Die Straßenbahnen sind heute Morgen gar nicht erst aus dem Depot gefahren. Tatsächlich, es streiken alle.«
Mathes März war hereingekommen und hatte Frau Reitzaks letzten Satz gehört. »Ich sagte es ja immer schon: Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will!«
Franziska lachte und umfasste mühelos den dünnen Oberarm von Mathes. »Starker Arm! Wo hast du den denn versteckt?«
»Du hast schmale lange Hände«, sagte Paul. Sie ließ Mathes los, trat auf Paul zu und versuchte, dessen Oberarm zu umschließen, aber das gelang ihr nicht.
Als Paul seinen Arm beugte und die Muskeln straffte, da sagte Franziska: »Hart wie Eisen! Mathes hat da nur Pudding.«
»Aber dafür hab ich die richtigen Ideen im Kopf. Der eine hat’s da«, er zeigte auf seinen Arm, »und der andere hat eben Köpfchen.«
»Hat der Paul auch«, behauptete Bruno.
»Ich will nicht widersprechen«, gab sich Mathes friedlich. »Vielleicht fehlt ihm das richtige Bewusstsein, aber heute will ich nicht streiten.«
»Das ist ja ganz neu an dir«, spottete Franziska.
»So wie ich Mathes kenne, will er den Paul anpumpen«, lachte Frau Reitzak. »Dazu braucht er gutes Wetter.«
»Mutter Reitzak hat mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen«, gestand Mathes. »Tatsächlich, ich brauche ’nen Taler. Drei Mark brauche ich und der Paul ist ein sparsamer Mann. Der hat bestimmt von seinem Lohn was auf die Seite gelegt.«
»Habe ich«, gestand Paul gutmütig, »aber für dich ist das nicht gedacht.«
»Paul«, klagte Mathes, »du willst doch die Revolution nicht an lumpigen drei Mark scheitern lassen?«
»Wovon redest du?«
»Mensch, Paul, wir stellen eine Volksarmee auf, die Rote Ruhrarmee. Wir wollen nicht den Wolfgang Kapp und nicht die Mörderbanden der Freischaren und auch die Reichswehr hat im Ruhrgebiet nichts verloren. Wir nehmen selbst die Knarre in die Faust. Endlich erkämpfen wir die Räteherrschaft. Die Zechen, die Betriebe, die gehören den Arbeitern!«
»Und das machst du alles mit drei Mark?« Paul nahm die ganze Geschichte von der lächerlichen Seite.
Mathes aber wurde sehr ernst. »Ich will mich für die Rote Ruhrarmee melden. Drei Mark Meldegebühr muss ich haben. Ich bin über achtzehn. Alle über achtzehn werden genommen. Wir kriegen einen Ausweis und eine rote Armbinde. Gewehre und Munition sind genug da. Ich will nicht abseits stehen, wenn meine Genossen die Macht erobern.«
»Ich bin nicht dein Genosse und ich pfeife auf eure Macht«, wehrte Paul ab. »Karl Schneider sagt …«
»Jaja, Karl hier und Karl da! Der und seine Sozis stimmen einem Kompromiss nach dem anderen zu. Wir wollen jetzt und ganz die Herrschaft des Proletariats. Endlich Gerechtigkeit für die Arbeiter. Sie sind lange genug ausgebeutet worden.«
»Hau ab, Mathes! Such dir einen anderen, der dir dafür drei Mark gibt«, sagte Paul, sprang erbost auf, ging in die Kammer und knallte die Tür hinter sich zu.
»Schade«, sagte Mathes. »Ich hatte mir Hoffnungen gemacht.«
»Gib ihm drei Mark, Mathilde«, sagte der alte Reitzak. Bisher hatte er stumm auf dem Stuhl am Fenster
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