Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
genau auszumachen, ob er das anerkennend meinte oder ob er seinen Vater spöttisch nachäffte, der immer mal wieder betonte, dass er Soldat geworden war, als Wilhelm I. noch lebte, dass er dann dem 99-Tage-Kaiser Friedrich III. die Treue geschworen hatte und schließlich unter Wilhelm II. die aktive Soldatenzeit beenden konnte.
»Du sagst es, mein Sohn«, bestätigte Martin Reitzak, aber seine Stimme klang drohend. »Jedenfalls, es war in meinem zweiten aktiven Jahr …«
Wieder fuhr Leo dazwischen: »Also unter Kaiser Friedrich III.«
»Gib jetzt Ruhe, Leo!«, sagte Frau Reitzak scharf.
Leo schlug die Augen nieder und grinste. Franziska trat ihm unter dem Tisch leicht gegen das Schienbein.
»Holländer Käskopp!«, zischelte Leo.
»Also, damals lagen wir in der Garnison in Wesel. An freien Tagen im Sommer fuhren mein Kamerad Alois Höckler und ich gelegentlich mit der Boxteler Bahn auf die andere Rheinseite. Da bei Xanten ist es herrlich.«
Diesmal war es Paul, der dazwischenwarf: »Mein Vater hat die Stadt Xanten oft erwähnt. Ein Lehrer ist damals mit ihm nach Amerika gezogen. Der musste aus Xanten fliehen. Die Preußen hatten ihn auf ihrer schwarzen Liste, weil er auf der Seite der Arbeiterbewegung stand. Erst kam er nach Liebenberg, aber dann haben sie ihm auch dort nachgespürt. In Amerika hat er meine Tante geheiratet.«
»Paul«, mahnte ihn Frau Reitzak, »das ist eine andere Geschichte. Jetzt wollen wir hören, was mein Mann zu sagen hat.«
»Ja, das ist eine sehr schöne Landschaft da um Xanten herum. Wir badeten in einem alten Rheinarm und liefen dann meist ein paar Hundert Meter einen Hügel hinauf. Von dort aus hat man einen weiten Blick über das flache Land, über den Strom hin und auch auf die alte Stadt. Über die Mauern und Dächer ragt hoch der Viktorsdom auf und reckt zwei mächtige Türme in den Himmel. Alois war kein Soldat, wie unser Unteroffizier sich Soldaten vorstellte. Niemals gelang es ihm, über die Kletterwand zu kommen, bei Ausmärschen machte er spätestens nach fünfzehn Kilometern schlapp. Alois wurde von unserem Unteroffizier schikaniert. Aber ich mochte Alois ganz gern. Er hatte nämlich viele Bücher gelesen und machte mir die Gegend dort lebendig. Er konnte Steine zum Reden bringen. Er wusste auch, dass oben auf dem Hügel die Römer ein großes Lager gebaut hatten, so um die Zeit, als man begann, die Jahre nach Christus zu zählen. Varus ist von da aus mit vielen Tausend römischen Soldaten über den Rhein gezogen. Zurückgekehrt ist kein einziger. Umgekommen sind sie alle. Neun nach Christus.«
Er hielt einen Augenblick inne und Frau Reitzak murmelte: »Krieg und Tod, so lange die Menschen zurückdenken können.«
»Na ja«, fuhr Martin Reitzak fort. »Jedenfalls konnte er mir erklären, warum auf dem Fürstenberg so viele Ziegelscherben auf den Äckern lagen und auch Teile von tönernen Krügen. Alois hatte da oben immer die Augen auf dem Boden. ›Ich will eine Gemme finden‹, sagte er und beschrieb mir die kleinen Steinchen, die braun oder wasserhell und manchmal auch tiefblau waren. Wie ein Fingernagel so groß sollten sie sein und kunstvoll und vertieft hineingeschnitzt Tiere oder Göttergestalten. Später haben wir in der Wirtschaft an der Kirche die eine oder andere Gemme gesehen. Bauern hatten die Steine gefunden. Sie wunderten sich, wenn Alois die dargestellten Göttergestalten erkannte und darüber Geschichten erzählte. Gelegentlich gaben sie dann ein Bier aus.
In dieser Wirtschaft verkehrten auch Offiziere aus der Garnison. Sie hatten einen Stammtisch in der Ecke. Die Offiziere waren ebenso scharf auf die Steine wie Alois. Der Unterschied war nur: Sie konnten ein goldenes Zehnmarkstück für eine Gemme bezahlen. Alois hatte wahrscheinlich noch nie ein Goldstück besessen. Die Offiziere waren ziemlich wütend auf Alois, denn die Bauern sagten, sie wollten mehr als zehn Mark. Schließlich würden an den Steinen Geschichten kleben. Sie hätten es von dem Soldaten gehört und zehn Mark für eine Gemme mit Geschichte, das sei zu wenig. Die Offiziere hatten lange mit den Bauern gefeilscht, aber die Niederrheiner können verdammt dickköpfig sein. Ihr braucht ja nur an Mama zu denken, dann wisst ihr, was ich meine.«
Martin Reitzak schmunzelte und Frau Reitzak schluckte eine giftige Antwort hinunter.
»Die Herren Offiziere mussten schließlich zwanzig Goldmark herausrücken, wenn sie einen Stein mit Geschichte haben wollten. Von diesem Sieg an erhielten
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