Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
sowieso noch hinüber.«
Franziska schloss sich ihnen an. Sie wollte noch ein paar Nähte herunterrattern, wie sie sagte.
Während Franziska die Ladentür aufschloss, gingen Paul und Bruno um den Häuserblock herum.
»Ich muss noch etwas mit dir bereden, Padre«, sagte Paul.
»Ja?« Die Angst schoss in ihm hoch, die Angst, dass irgendetwas Paul und ihn auseinanderbringen könnte.
»Es ist, weil du ja bald eine Lehrstelle antrittst.«
»Was meinst du, Paul?«
»Ich habe nach Ortelsburg geschrieben, Padre. Sie haben es schwarz auf weiß bestätigt, dass du der einzige Kurpek bist, der den Krieg überlebt hat.«
»Ich weiß es«, sagte Bruno bedrückt.
»Du brauchst einen Vormund, Junge.«
»Doch nicht den Hubert? Nein, den Hubert bitte nicht.«
»Ich habe das auch überlegt, Bruno. Aber dann dachte ich, dass ich, dass wir … Nun, ich wollte dir vorschlagen, dass ich dein Vormund werde.«
»Mensch, Paul«, rief Bruno, blieb einen Augenblick starr stehen und stürzte sich dann dem Paul in die Arme.
Theo Beilen, der gerade mit Gerda Freitag und Giovanni Parvese vorbeiging, pfiff laut und rief: »Guckt mal, der Bienmann ist andersherum. Der treibt’s mit kleinen Jungen.«
»Du Blödmann«, schrie Bruno, aber das klang eher fröhlich.
Sie traten durch die Einfahrt in den Stall. Samstags kamen die Gespanne früher von ihrer Runde zurück. Die meisten Kutscher aber waren noch nicht nach Hause gegangen.
»Sie sitzen in der Schmiede«, sagte Manfred.
Paul schritt von Box zu Box. »Herrliche Tiere«, sagte er begeistert. »Und was für ein wunderbarer Stall.« Er schaute ringsum und ließ sich schließlich auf einer Futterkiste nieder.
Bruno und Manfred setzten sich dazu. Es war schön, im Dämmerlicht im Stall zu hocken. Einige Pferde schnoberten gelegentlich und stampften dann und wann auf den Boden. »Euer Stall in Liebenberg war auch schön«, sagte Bruno.
»Ja, das stimmt. Mein Vater hatte eine gute Hand für Pferde. Wenn die Pferdehändler kamen und ihm eins andrehen wollten, das nicht ganz in Ordnung war, dann sah er das schon nach ein paar Blicken. Aber wir hatten selbst in der besten Zeit des Fuhrgeschäfts höchstens ein Dutzend Pferde.«
Bruno sagte: »Hier sind es vierundzwanzig. Zehn Gespanne sind jeden Wochentag auf der Achse. Sie ziehen die Wagen mit den Fässern bis in die Nachbarstädte hinein. Jeweils vier Pferde haben Pause und weiden an diesem Tag.«
Von der Schmiede her drang Stimmengewirr.
»Ich muss nach Hause«, sagte Manfred. »Alwin und ich wollen heute Abend noch in der Wirtschaft helfen. Es ist viel los.«
»Was Besonderes heute?«, fragte Paul.
»Irgendwas in Berlin. Ein Putsch oder so. Deshalb sitzen die Kutscher ja auch noch zusammen.« Er ging auf die Straße hinaus.
»Wer ist das?«, fragte Paul.
»Mein Freund Manfred«, antwortete Bruno. Erst als er es ausgesprochen hatte, merkte er, dass er zum ersten Male »Freund« gesagt hatte.
»Gut, wenn man einen Freund hat.«
»Soll ich dich noch zum Stallbaron bringen?«, fragte Bruno.
»Stallbaron?«
»Herr Schiller ist hier der Stallmeister.«
»Er wird keine Zeit haben.«
»Der hat immer Zeit. Er hat nämlich eine besondere Begabung. Er kann die Arbeit auf andere verteilen, ohne sich selbst wehezutun.«
»Aber den Stall und die Tiere hat er in Ordnung.«
»Ja, ich sag’s ja, eine besondere Begabung.«
Paul wollte die besondere Begabung kennenlernen. Sie gingen über den Innenhof zur Schmiede hinüber. Bruno öffnete die Tür. Lärm, Wärme und Tabaksqualm schlugen ihnen entgegen. In der Esse glühten Kohlen, leuchteten den Raum aber nur spärlich aus.
»Aha, unser Padre!«, rief der Stallbaron. »Und einen Gast hat er mitgebracht.«
»Das ist der Paul Bienmann, den ich in Berlin getroffen habe«, sagte Bruno. »Sie wissen schon, ich hab Ihnen ja davon erzählt.«
»Richtig.«
Allmählich gewöhnten sich Pauls Augen an das schwache Licht. Sicher mehr als ein Dutzend Männer hockte in der Schmiede auf Fässern und auf der Werkbank.
»Das ist der Mann, Kollegen, der auch was von Pferden versteht«, sagte der Stallmeister. »Der Padre hat behauptet, Sie hätten zu Hause ein Fuhrgeschäft und eine Zimmerei. Ihre Transporte wären von Ostpreußen aus manchmal wochenlang unterwegs gewesen.«
»Ich glaube, der Bruno hat ein wenig übertrieben«, sagte Paul. »Außerdem, das ist mein Vater, Lukas Bienmann, von dem die Rede ist. Ich selbst kenne weder Rußssland noch Amerika. Ich bin nur in Frankreich gewesen und das
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