Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
und ließen sich einladen.
»Eine Vaterschaft muss begossen werden«, sagte Paul. »Jetzt kann der Bruno seine Lehre beginnen. Er hat endlich einen, der den Lehrvertrag unterschreibt.«
»Ja«, sagte Bruno. »Das ist ein schönes Gefühl.«
Zehn Tage freie Zeit lagen zwischen Brunos Entlassung und seinem ersten Arbeitstag beim Metzger Lohmüller.
Die Rote Ruhrarmee hatte sich aufgelöst, die Reichswehr »säuberte« die Städte, wie sie es nannte, aber in Wirklichkeit wütete manche Einheit noch tagelang unter denen, die verdächtig schienen, am Aufstand beteiligt gewesen zu sein.
Als die feldgrauen Marschkolonnen, Musik voran, durch die Kaiser-Wilhelm-Straße zogen, da jubelten viele Bürger den Soldaten zu. Winke und Zurufe wurden laut: »Endlich ist der Spuk vorbei!«, »Hoch unseren Befreiern!«
Unter denen, die befreit aufatmeten, waren neben den Cremmes’ und dem Wirt »Zum dicken Pferd« auch und ausnahmslos die Kutscher und Beifahrer aus Barons Pferdestall. Nur der Nachtwächter Bilarski äußerte sich nicht. An dem letzten Abend vor dem Beginn seiner Lehrzeit saß Bruno noch lange im Stall auf einer Futterkiste. Manfred und Alwin waren nach Hause gegangen. Nach dem üblichen Rundgang durch die Schmiede, die Wagenremise, durch Hof und Ställe und über den Dachboden schließlich, den Bilarski immer besonders genau inspizierte, setzte sich der Nachtwächter zu Bruno.
Bilarski war ein langer, etwas schlaksiger Mann von etwa sechzig Jahren mit auffallend hellgelbem Haar, in dem die ersten grauen Strähnen kaum auffielen.
»Da oben regnet’s mal wieder durch«, sagte er. »Das Dach müsste endlich repariert werden. Ich hab’s dem Schiller schon zehnmal gesagt.« Bilarski summte vor sich hin. Aber es klang schwermütig, traurig manchmal.
Bruno kannte die Melodien nicht, doch fand er, dass sie zu Bilarski passten, zu seinen braunen, halb von den Lidern verdeckten Augen, den scharfen Kerben von den Mundwinkeln hinab, zu seinen bedächtigen Bewegungen.
Mit einem Mal horchte Bruno auf. Was Bilarski da summte, war fern aller Melancholie. Das war dem Jungen eine vertraute Melodie, ein Lied, das sein Bruder mit seinen Genossen oft und oft gesungen hatte, Feuer in den Augen und die Faust geballt: »Völker, hört die Signale!«, sagte Bruno.
Bilarski zuckte zusammen und verstummte. Dann versuchte er verlegen zu erklären: »Man hat das in der vergangenen Zeit oft singen hören, es sitzt einem im Ohr.«
Er stockte und bat Bruno: »Bitte, erzähl denen im Stall nichts davon. Sie trauen mir sowieso nicht über den Weg. Wenn sie erfahren, dass hier einer die Internationale summt, dann ist er die längste Zeit Nachtwächter bei dem Stallbaron gewesen.«
»Ich erzähle nichts, wenn Sie es nicht wollen. Aber warum soll ich nichts erzählen? Warum feuern die Barons einen, der ein Lied der Roten singt?«
»Junge, das musst du doch längst gemerkt haben. Hier im Stall werden nur Kutscher und Beifahrer eingestellt, die groß und stark sind und die wenigstens ihre zwei Zentner auf den Rippen haben. Zehn Fünfundsiebzig-Liter-Fässer müssen sie ohne Pause nacheinander hochreißen und auf den Wagen bringen können. Aber mindestens ebenso wichtig ist für die Barons das, was in den Schädeln der Männer vorgeht, was sie denken, was sie reden. Das muss ganz weit rechts sein.«
»Und was sie singen, muss vaterländisch klingen«, fügte Bruno hinzu, sprang von der Kiste auf, stellte sich breitbeinig in den Gang, das Gesicht den Pferden zugewandt, und sang laut: »Was ist des Deutschen Vaterland.« Aber dann kippte seine Stimme.
Wotan und Thor, die beiden Wallache, rissen erschreckt die Köpfe hoch. Bilarski verzog das Gesicht zu einem Lachen.
»Bist ja mitten im Stimmbruch, Padre. Nicht mehr lange, dann bist du ein Mann.«
»Ab morgen um sieben bin ich ein Mann«, antwortete Bruno. »Dann beginnt meine Lehre beim Metzger Lohmüller.«
»Na, hoffentlich vergeht dir das Singen nicht«, sagte Bilarski.
Am nächsten Morgen wurde Bruno von Paul geweckt. Beim Frühstück verschwand Paul hinter der Zeitung und ab und zu las er eine Meldung laut vor.
»Mehr als tausend Tote in den letzten Wochen. Im Ruhrgebiet herrscht wieder Ruhe.«
»Friedhofsruhe?«, fragte Frau Reitzak.
»Franzosen haben die Stadt Frankfurt und andere Gebiete auf dem rechten Rheinufer besetzt, weil die Reichswehr in das Ruhrgebiet einmarschiert ist.«
Diesmal gab Ditz seinen Kommentar: »War ihnen doch ganz recht, dass es so gekommen ist. Am
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