Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
starrte.
Mit lauter Stimme begann Bruno: »Der Rütlischwur, von Friedrich von Schiller.« Le-ber-wurst, dachte er. Das hatte ihm Lehrer Möller geraten, damit die Pausen ja lang genug ausfielen und er nicht ins Hetzen geriet. Dann fuhr er fort:
»Bei diesem Licht, das uns zuerst begrüßt«, (Le-ber-wurst) »von allen Völkern, die tief unter uns« (Le-ber-wurst) »schwer atmend wohnen in dem Qualm der Städte«, (Le-ber-wurst) »lasst uns den Eid des neuen Bundes schwören.« (Le-ber-wurst)
In diese Pause hinein drang nun deutlicher, was man vorher als Wagenpoltern missverstehen konnte. Das war ganz eindeutig Artilleriefeuer. Abschüsse, dumpf und fern, Einschläge, laut und viel zu nah. Bruno versuchte, den Rütlischwur zu Ende zu bringen, vergaß jedoch die Leberwurstpausen und rief laut und hastig: »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr. Wir wollen frei sein, wie die Väter waren, lieber …«
Eine starke Detonation ließ ihn verstummen. Die Scheiben klirrten jetzt laut, der Boden zitterte spürbar.
»Die Reichswehr greift an«, schrie Rektor Soltau. »Die Feier ist zu Ende. Los, alle schleunigst nach Hause!«
»Wir wollen trauen auf den höchsten Gott und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen«, murmelte Bruno leise und mechanisch.
»Keine Panik!« schrie Rektor Soltau, aber es war doch wie ein Wunder, dass alle heil durch die breite Tür der Aula kamen und dass niemand im Gedränge die Treppe hinabstürzte.
Die Reichswehr drang vom Rhein her vor und hatte in den Stadtteil geschossen. Von der Roten Ruhrarmee konnten sie damit niemand beeindrucken, denn die hatte sich weiter im Norden der Stadt und an der Lippe auf Wesel zu festgesetzt. Aber eine Granate hatte das Kriegerdenkmal getroffen und den fahnentragenden Soldaten in der Uniform eines preußischen Infanteristen von 70/71 samt Granitsockel zerstört.
Frau Reitzak schlug vor, alle Streitigkeiten in Zukunft so auszutragen, dass die kriegerischen Parteien ihre Denkmäler an den Ufern des Rheins aufstellen und dann wechselweise über den Strom hinüber und herüber schießen sollten. Nach einer vorher vereinbarten Zeit brauche dann nur noch ausgezählt zu werden, wie viele Stein- und Bronzehelden übrig geblieben seien. So sei der Sieger leicht zu ermitteln.
Aber für ihren Vorschlag war die Zeit wohl noch nicht reif. Vielmehr lieferten sich die Roten und die Reichswehr in der Lohberger und Dinslakener Gegend eine erbitterte Schlacht. Die Reichswehr verfügte über gepanzerte Fahrzeuge und setzte Minenwerfer und Artillerie ein. Die Rote Ruhrarmee floh schließlich. Die Soldaten der Reichswehr blieben den Roten dicht auf den Fersen.
Am Ostersonntag zogen sich auch in der Blütentalstraße alle Leute in die Häuser zurück und mieden die Nähe der Fenster.
Gewehrschüsse peitschten durch die Straßen. Die Soldaten schossen auf alles, was sich bewegte.
Bruno saß im Treppenhaus zusammengekauert auf einer Stufe. Es knallte ein paarmal und eine Scheibe zersplitterte.
Mit einem Male wurde die Haustür aufgerissen. Bruno erkannte Mathes. Bei ihm war ein junger Bursche, keuchend, Angst in den Augen. Mathes schlug die Haustür hinter sich ins Schloss.
»Was ist, Mathes?«, rief Bruno.
»Ich lauf hinten raus durch die Gärten. Der Günther hier, der kann nicht mehr.« Er stieß seinen Gefährten zur Treppe hin und drängte ihn: »Versteck dich oben irgendwo.«
Einen Augenblick zögerte Günther noch, aber da wurde schon an der Haustür wild geklingelt und Kolbenhiebe stießen gegen das Holz.
Bruno war wie gelähmt. Frau Reitzak hatte sich über das Treppengeländer gebeugt. Während Mathes durch die Hoftür eilte und sich über die niedrige Mauer zum Nachbarhof hin schwang, rief sie: »Schnell, Junge, komm herauf!«
Günther hetzte in großen Sprüngen die Treppe hinauf.
Unten wurde die Haustür von Frau Cremmes geöffnet. »Was wollen Sie hier?«, fragte sie.
Doch die Reichswehrsoldaten schoben sie beiseite. Einige trabten in den Hof und sahen sich um. »Hier ist niemand mehr!«, riefen sie.
Ein Feldwebel befahl: »Das Haus durchsuchen! Sie müssen hier irgendwo stecken.«
Frau Reitzak hatte die Küchentür einen Spaltbreit aufstehen lassen und gelauscht. Jetzt schloss sie die Tür leise und sagte: »Du, Bruno, setzt dich an den Tisch zu Franziska. Ihr habt nichts gesehen und nichts gehört. Klar?«
Dann zog sie den jungen Roten mit sich in die Kammer. Sie kehrte allein in die Küche
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