Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
zurück. Die Tür wurde aufgerissen. Drei Soldaten stürmten herein. »Nichts gesehen?«, schrie einer Frau Reitzak an.
»Doch«, sagte die ruhig. »Ich sehe ganz gut und mit dem Hören habe ich auch keine Schwierigkeiten. Sie brauchen nicht so zu schreien.«
Die Soldaten stutzten, blieben stehen und fragten eine Spur freundlicher: »Wir suchen zwei von den roten Halunken. Sie müssen sich hier im Haus irgendwo verborgen halten.«
»Hier haben sich keine zwei Männer versteckt«, antwortete Frau Reitzak. »Hast du nichts bemerkt, Junge?«
»Nein«, antwortete Bruno.
»Wir müssen die Wohnung durchsuchen«, sagte einer.
»Tut, was ihr tun müsst.« Frau Reitzak setzte sich zu Bruno an den Tisch.
Die Soldaten deckten in Reitzaks und Franziskas Schlafzimmer die Betten auf, öffneten die Tür des Kleiderschranks, schauten sogar in die Holzkiste, die vorne stand. Dann stöberten sie in den Kammern herum.
Bruno sah, dass Frau Reitzaks Knöchel schneeweiß wurden, so fest presste sie die Fäuste zusammen.
Franziskas Augenlider flatterten. Bruno biss fest die Zähne gegeneinander. Er hatte vorher immer gedacht, klappernde Zähne, das sei eine Übertreibung. Jetzt wusste er, dass es nicht so war.
Nach wenigen Augenblicken kehrten die Soldaten wieder in die Küche zurück.
»Nichts zu finden«, sagte einer von ihnen.
»Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«, fragte Frau Reitzak.
»Nein, wir müssen weiter.« Sie schlossen die Tür hinter sich.
Frau Reitzak wartete, bis die Stiefeltritte verklungen waren und Frau Cremmes die Haustür schloss. Dann ging sie zurück in die Kammer. Bruno und Franziska folgten ihr.
In der hinteren Kammer, dort, wo Brunos Reich war, klopfte sie an die Badewanne, die an der Wand hing, und sagte: »Sie können herauskommen. Es ist vorbei.« Sie ließ sich auf Brunos Bett fallen und sagte verwundert: »Wie habe ich ihn da bloß hineinbekommen?«
Franziska befreite den Mann aus seinem engen Versteck.
»Danke, Genossin«, sagte er und ergriff Frau Reitzaks Hand.
Sie lachte. »Manchmal kommt man schneller an Genossen, als es einer alten Frau lieb sein kann«, sagte sie. Dann aber wurde sie ernst und fuhr den Mann an: »Ich habe nicht viel für euch Rote übrig. Ich bin mehr für Ebert.«
»Aber Sie haben mir doch das Leben gerettet«, wandte der Mann verwirrt ein. »Warum haben Sie das denn gemacht?«
»Ich bin dagegen, dass man einen Menschen wie ein Karnickel abschießt. Deshalb.«
Sie kehrten in die Küche zurück.
Der Mann stellte sich vor. »Ich heiße übrigens Günther Blum.«
»Ich werde es mir merken«, sagte Frau Reitzak. »Wenn Sie mal Minister bei den Roten werden, ist es vielleicht gut, wenn man Ihren Namen kennt.«
»Unsere Sache ist verloren«, entgegnete Günther. »Wir Arbeiter waren uns wieder mal nicht einig. In Hagen wollten sie den Kompromiss mit der Regierung und sind dem Severing auf den Leim gegangen. In Essen waren sie zu Verhandlungen bereit, aber dort wollte niemand die Waffen abgeben. In Mülheim und bei uns hatte unser Führer Dudo die Parole ausgegeben: Sieg oder Untergang. Die einen wollten dies, die anderen das. Deshalb hat die Reichswehr uns überrollen können. Wer sich gewehrt hat, wen sie mit der roten Armbinde aufstöberten, der wurde an die Wand gestellt und erschossen. Die Toten haben sie ganz einfach liegen lassen. Zur Warnung, haben sie gesagt. Drüben auf dem Sportplatz ist wohl ein Dutzend unserer Männer umgebracht worden. Es war zum Schluss kein Kampf mehr, nur noch ein Morden.«
Bei diesem Wort fiel Bruno ein, wie es seinem Bruder in Berlin ergangen war. Er drehte die Matrosenmütze in den Händen und fragte: »Und was geschieht mit den Mördern?«
Günther zuckte die Achseln.
»Wer Wind sät, wird Sturm ernten«, orakelte Frau Reitzak.
21
Paul Bienmann, Sohn des Zimmermeisters Lukas Bienmann und seiner Frau Lisa, geboren zu Liebenberg im Kreis Ortelsburg in Ostpreußen am 22. März 1898, Maschinenschlosser, ich bestelle Sie hiermit zum Vormund über die Waise Bruno Friedrich Kurpek, geboren ebendort am 14. April 1906.«
Der Beamte legte seine Brille auf die Schreibtischplatte und sagte: »Hier bitte unterschreiben.«
»Ich auch?«, fragte Bruno.
»Aber sicher. Du musst schließlich dein Einverständnis erklären.«
»Das mache ich«, sagte Bruno. Die Feder kratzte über das Papier.
Der Beamte händigte Paul die Urkunde aus und gratulierte. Franziska und Alwin standen im Hintergrund. Auch sie schüttelten Paul und Bruno die Hand
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