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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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endlich stattfinden, die wegen der Unruhen mehrfach verschoben worden war. Bruno und Manfred waren schon zeitig losgezogen. Bruno konnte längst sein Gedicht vor- und rückwärts auswendig, aber die erwartete Generalprobe schien nicht stattzufinden. Die Lehrer standen auf dem Schulhof im Kreis und diskutierten heftig. Auch Kaplan Klauskötter war unter ihnen.
    Als Lehrer Möller den Bruno entdeckte, winkte er ihn zu sich heran. Der Junge war ziemlich befangen, als er mitten unter den Lehrern stand.
    »Na, Kurpek, kannst du deinen Spruch?«
    »Ja, Herr Lehrer.«
    »Und du wirst nicht zu hastig sprechen?«
    »Nein, Herr Lehrer. Ich mache es so, wie Sie es gesagt haben.«
    »Im Auswendiglernen bist du tatsächlich gut und du wirst auch eine gute Note auf deinem Zeugnis wiederfinden.«
    »Wie immer, Herr Lehrer.«
    Bruno hatte das gar nicht patzig gemeint, aber es klang so. Das spürte er auch und wurde noch verlegener.
    »Aber was soll ich dir im Rechnen geben, mein Lieber? Ich bin unentschlossen. Du bist erst ein paar Monate hier.«
    »Wir könnten ihn ja prüfen«, schlug ein älterer Lehrer vor.
    »Nicht schlecht«, willigte Bubi Möller ein.
    Nun flogen dem Bruno die Aufgaben nur so um die Ohren. Das große Einmaleins mit siebzehn vor- und rückwärts, sieben Prozent von dreihundertfünfzig Mark, wenn ein Fass von drei Wasserröhren in einer Stunde und zwanzig Minuten gefüllt wird, wie lange müssten vier Röhren fließen, bis es voll ist.
    »Aber, meine Herren!«, protestierte Kaplan Klauskötter. »Das können Sie doch mit dem Bruno nicht machen. Sie sehen doch, er ist ganz durcheinander.«
    »Sie sagen es, Herr Kaplan«, beschied ihn Lehrer Möller. »Er ist durcheinander und das kann man im Rechnen nicht akzeptieren. Klarer Kopf und kühles Blut, das wird beim Rechnen gefordert. Deshalb … «, er schaute sich im Kreis um, »deshalb … na, sagen wir ›genügend‹.«
    »Aber, Herr Möller!« Der Kaplan geriet in Zorn. »Das ist ja unmöglich.«
    Möller sah ihn giftig an und zischte: »Nicht vor den Schülern, Herr Kaplan! Nicht vor den Schülern! Beim Herrn Pastor Kunze werde ich mich über Sie beschweren. Sie werden schon sehen.« Er drehte sich um, klatschte in die Hände und schrie über den Schulhof hin: »Alles aufstellen! Wir gehen in die Aula!«
    Franziska und Paul waren auch zur Abschlussfeier gekommen, aber insgesamt fehlte mehr als die Hälfte der Eltern. Als Franziska sah, dass Manfred vergeblich nach seiner Mutter Ausschau hielt, sagte sie zu dem Jungen: »Paul für Bruno und ich für dich, ja?«
    »Mutter hat gesagt, wenn sie eben aus der Küche entwischen könnte, dann würde sie kommen.«
    Der Chor sang: »Was ist des Deutschen Vaterland«, der Rektor redete kurz und mahnte die Jungen, dass sie brav bleiben und sich bewähren sollten, aber mit Gottes Hilfe werde schon alles recht. Lehrer Möller hatte eine gute Tenorstimme. Er ließ sich am Klavier von Herrn Böhlke begleiten und sang die Ballade von Herrn Heinrich, der am Vogelherd saß.
    »Der bringt mich auf ’ne Idee«, flüsterte Bruno dem Manfred zu. »Spatzen werden wir fangen. Das gibt ’ne schöne fette Suppe.«
    Manfred tippte mit dem Finger gegen die Stirn. »Total verrückt!«, sagte er leise.
    Der Rektor schaute sich um und blickte in die Richtung, aus der das Geschwätz kam.
    Der Klavierdeckel wurde zugeklappt und verschlossen.
    »Jetzt werden Herr Zündel und ich die Zeugnisse austeilen«, sagte Herr Möller. »Die besten Schüler kommen zuletzt an die Reihe.«
    Trotz des »Genügend« im Rechnen war Bruno unter den besten zehn. Manfred sagte: »Ich liege nicht unten und nicht oben. Ich bin genau richtig in der Mitte.«
    Schon während des Austeilens der Zeugnisse hatten mehrmals die Fensterscheiben leise geklirrt, aber niemand hatte darauf besonders geachtet. Auch hätte das leise Grummeln wohl von den schweren Wagen der Baron-Brauerei kommen können.
    »Zum Schluss wollen wir alle aufstehen«, befahl Lehrer Möller. »Der Kurpek sagt jetzt noch seinen Text auf und dann singen wir, schließlich sind wir eine katholische Schule, dann singen wir alle ›Großer Gott, wir loben dich!‹« Er gab Bruno ein Zeichen und der trat vor Lehrer, Eltern und Schüler hin.
    Er hatte sich vorgenommen, über die Köpfe der Menge hinwegzuschauen und den Blick fest auf Iphigenie auf Tauris zu halten, die als riesige Gemäldereproduktion die Rückwand der Aula zierte und traurig irgendwohin in weite Fernen, jedenfalls aber nicht auf Bruno

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