Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
Vom Netzwerk:
hatte. Alwin war es auch, der ihm aus der Schülerbücherei immer wieder Lesestoff mitbrachte. Bruno hockte oft in seiner Kammer zwischen Bett und Badewanne und vergrub sich in die Geschichten.
    Der Junge vergaß alles um sich herum, wenn er von Menschen las, in denen er sich selbst wiederfand. Er entdeckte, dass Fantasie eingebunden lag in einem Grashalm, in der zerfurchten Hand von Oma Beilen, in der Glätte eines Kiesels am Rhein und dass hinter den sehr wirklichen Dingen eine verborgene tiefere Bedeutung lag. Anfangs nörgelte der alte Reitzak oft herum, wenn Bruno stundenlang über einem Buch saß. Der Junge solle lieber etwas Vernünftiges tun. Am Ende hole er sich noch die Schwindsucht. Karl Schneider jedoch verteidigte Brunos Leselust und behauptete: »Wissen ist Macht. Lasst den Jungen lesen, so lange er will. Die Arbeiterschaft braucht Menschen mit Luke.«
    »Ja, wenn das so ist«, sagte der alte Reitzak.
    Aber Lesen in seiner Kammer, das war nur im Sommer möglich. Spätestens im Herbst, bei stärkerem Regen, wurden die Wände so feucht, dass der Putz zu faulen begann. Im letzten Winter hatte das eine Fenster sieben Wochen lang seinen Eisblumenschleier nicht verloren und das Wasser in der Kanne war gefroren. Bruno hatte selbst nachts die Mütze nicht abgesetzt.
    Es war schwer, in der Blütentalstraße eine längere Zeit allein zu bleiben. Die Wohnungen waren klein; sechs, sieben Kinder in den Familien bildeten keine Ausnahme. An warmen Tagen boten die Straße und die kleinen Höfe hinter den Häusern einen zusätzlichen Lebensraum, aber meist hockten die Menschen dicht aufeinander. Lachen und lärmendes Gegröle von denen, die zu viel getrunken hatten, Streit und Liebe, nichts war in dieser Enge in den vier Wänden zu halten.
    »Keine Gegend für Wüstentage«, sagte Bruno bitter. Aber als Anfang November die ersten Frostnächte kamen, da fand Bruno überraschend einen Unterschlupf.
    Frau Reitzak bat ihn, der Franziska das Abendessen in die Werkstatt zu bringen. Franziska hatte einen eiligen Auftrag und sollte wenigstens zwischen zwei Nähten schnell von der Suppe essen, die Frau Reitzak gekocht hatte.
    Bruno trug die Schüssel hinüber.
    Die beiden Näherinnen, die Franziska inzwischen beschäftigte, waren schon nach Hause gegangen und auch der Lehrling Eva Böhlinger verabschiedete sich gerade. Franziska hielt das Schwungrad ihrer Nähmaschine an, drehte die Flamme des Gaslichts ganz klein und löffelte die Suppe.
    Bruno hockte sich zu ihr in die halbdunkle Werkstatt. »Schön hier«, sagte er und schaute auf die Regale, in denen verschiedene Stoffballen lagen. Über die Kleiderpuppe war eine karierte halb fertige Jacke gehängt. Zwei Nähmaschinen waren mit weißen Tüchern abgedeckt. Von draußen her fiel durch das Schaufenster ein wenig Licht der Straßenlaterne.
    Es klopfte und die beiden Hutmacherinnen kamen herein. »Dürfen wir uns dazusetzen? Ein Schwatz am Abend ist für uns alte Frauen das einzige Vergnügen.«
    Hermine Feigel hatte sich schon auf einem Stuhl niedergelassen. Wenn sie saß, wirkte sie wie ein dicker Gnom. Ihre Schwester Hannah lehnte sich mit dem Rücken gegen den Türpfosten.
    »Ich soll dich übrigens mahnen«, sagte Bruno zu Franziska, »dass du nicht wieder bis in die Nacht hinein arbeitest. Heute ist Samstag. Du weißt ja, deine Mutter wird biestig, wenn einer von der Familie beim Bibellesen nicht dabei ist.«
    »Oh«, wunderte sich Fräulein Hannah, »bei Reitzaks wird Bibel gelesen?«
    »Nur samstags«, antwortete Franziska. Dann zeigte sie auf Bruno. »In letzter Zeit lässt mein Vater nur noch den Padre vorlesen. Er sagt, seine eigenen Augen werden immer schlechter. Aber ich glaube, das ist nicht der wahre Grund. Er will den Padre hören, weil der eine schöne Stimme hat.«
    Bruno hatte eine Stecknadel genommen und piekte Franziska damit.
    »Au!«, schrie sie auf. »Vorlesen kannst du wirklich gut, aber sonst bist du ein Nichtsnutz!«
    »Was lest ihr denn im Augenblick?«, wollte Hannah wissen.
    »Das Buch der Psalmen«, gab Bruno Auskunft.
    »Das kennen wir Juden auch«, versicherte Hermine. »Als unser Vater noch lebte, da mussten wir viele Psalmen auswendig lernen.«
    »Könntest du nicht mal für uns lesen?«, bat Hannah.
    Bruno dachte: Das hat gerade noch gefehlt, aber Franziska grinste schadenfroh und sagte: »Nehmen Sie ihn gleich mit hinüber. Er tut so was gern.«
    Diesmal hatte sie damit gerechnet, dass er sie stechen wollte, und wich ihm geschickt

Weitere Kostenlose Bücher