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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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aus.
    Hannah und Hermine liefen hinüber in ihren Laden und er folgte verdrießlich den beiden alten Frauen.
    Sie führten ihn in ein kleines Wohnzimmer hinter der Werkstatt. Noch niemals zuvor hatte Bruno einen Raum gesehen, der so voll-gestopft war mit Möbeln, Sesseln, Bildern, Teppichen, Porzellanfiguren und Deckchen überall.
    Sie räumten einen Platz auf einem blauen Samtsofa frei, das bepackt war mit vielen Damenhüten.
    »Machen Sie das alles selbst?«, staunte Bruno und nahm ein duftiges Hutgebilde aus dünnem glutrotem Filz in die Hand. Ein weißer Schleier und eine dunkelrote Seidenrose waren drangeheftet.
    »Aber sicher«, sagte Hannah eifrig. »Ich forme den Filz und Hermine denkt sich den Schmuck aus. An der Seidenrose hat sie einen ganzen Tag gearbeitet.«
    »Und so sehen meine Hände dann aus«, sagte Hermine, drehte das Gaslicht hell und zeigte Bruno ihre Fingerspitzen. Sie waren übersät mit schwarzen, punktförmigen Einstichen.
    Hannah blätterte in einem dicken, in Leder gebundenen Buch. »Dort, wo das Lesezeichen liegt«, sagte sie und reichte es dem Bruno hinüber.
    Er schlug das Buch auf. Es war in großen Buchstaben geschrieben. Die Anfangsbuchstaben der Kapitel leuchteten farbig und prächtig und waren zu kleinen Ornamenten gestaltet.
    Der Junge begann leise und befangen: »Ihr Mächtigen, sprecht ihr denn in Wahrheit Recht? Richtet ihr denn gerecht die Menschenkinder?« Aber allmählich verlor er seine Befangenheit. Diese Texte, die ihn jedes Mal packten, wenn er sie vorlas, ließen ihn vergessen, dass er zwischen Deckchen und Damenhüten saß.
    »Sie verspritzten Gift, dem Giftzahn der Schlangen gleich.« Heiß fiel ihm sein Bruder ein, dessen Tod kein Richter aufgegriffen hatte.
    »Gott, brich ihnen die Zähne in ihrem Mund. Die reißenden Zähne der Löwen zerschlage, oh Herr. Sie sollen vergehen wie die Schnecke, welche zerfließt, wie die Fehlgeburt einer Frau, die niemals die Sonne erblickt.«
    Fasziniert hörten die Frauen ihm zu.
    Hermine sagte: »Ich verstehe, warum der Reitzak, dich lesen lässt, Junge.« Sie drängten ihn, sie bald wieder zu besuchen.
    »Jetzt haben wir dem jungen Mann nicht einmal etwas angeboten«, sagte Hannah vorwurfsvoll zu Hermine.
    »Das nächste Mal gibt es Kekse und Tee«, versprach diese.
    In der Folgezeit war Bruno oft bei den beiden Hutmacherinnen, denn die hatten ihm vorgeschlagen, dass er, wann immer er wolle, zu ihnen kommen und in ihrem Wohnzimmer lesen oder lernen könne, ganz wie es ihm beliebe. Und die Bücher im Bücherschrank, die solle er nur durchstöbern, wenn ihm das Spaß mache.
    Aber auch im Pferdestall war Bruno nach wie vor häufig, half dort beim Pflegen der Tiere und ging dem Stallbaron genauso zur Hand, wie es Manfred und Alwin taten.
    Die Brüder kassierten für jede Stunde ihren flüssigen Lohn, während Bruno nur gelegentlich ein paar Flaschen Bier für Herrn Reitzak erhielt.
    Eines Abends im November hockten sie noch im Stall beieinander. Hermann Cremmes war auch dabei.
    »Was zieht dich eigentlich so oft zu den Feigel-Jungfern?«, wollte Alwin wissen.
    »Ich kann dort allein sein«, antwortete Bruno kurz.
    »Wie, bei den Judenweibern treibst du dich herum?«, fragte Hermann und er schien empört.
    »Warum nicht?«
    »Die Juden, die sind unser Untergang,« sagte Hermann.
    Bruno musste lachen. »Die beiden Frauen machen Damenhüte. Das kann doch kaum dein Untergang sein. Oder hast du eine Freundin, die einen neuen Hut haben will?«
    »Quatsch! Ich meine die Juden in der Regierung, bei den Gerichten und beim Theater. Die jüdischen Bankiers, das sind Leute, die unser Vaterland verschachern.«
    »Mein Vater sagt«, wandte Manfred ein, »im Krieg hätten die deutschen Juden genauso gekämpft wie alle anderen Soldaten.«
    »Der Vater von den Feigel-Jungfern, der hat 1871 sogar eine hohe Tapferkeitsauszeichnung bekommen«, behauptete Alwin.
    »Dein Vater sagt! Der hat gut reden. Der durchschaut die Sache nicht. Wenn ich im D-Zug die Karten kontrolliere – wer sitzt in der ersten Wagenklasse? Viele Juden machen sich dort breit.« Hermann war wütend geworden. »Ich sage euch und Adolf Hitler sagt es auch, in Deutschland kehren erst wieder Recht und Ordnung ein, wenn die Judenbande kaltgestellt ist.«
    »Der Hermann hat recht«, stimmte der Stallbaron zu. »Die meisten Juden treiben sich in Berufen herum, in denen sie sich nicht die Hände schmutzig machen müssen. Die saugen unser Volk so richtig aus. Schmarotzer und Schieber sind

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