Zeitbombe Internet
Internet zu dem Ort, an dem wir leben, unsere Freizeit verbringen, unsere Arbeit verrichten und unsere Profite einstreichen! Mit anderen Worten: Das, was bisher passiert, wird demnächst intensiver und häufiger passieren.
Doch die stillen, aber mächtigen Trends in der Gegenrichtung â die Art von Prozessen, die Gladwell beschrieb â entgehen dieser Art von Prognosen vollständig. Als endlich utopische Begeisterung über die Errungenschaften der Industrialisierung ausbrach â wo war die Vorhersage, dass sich die groÃen Industriestaaten eines Tages dank dieser Technik in zwei Weltkriegen zermalmen würden? Als die Automobilgesellschaft Form annahm und den Menschen grenzenlose Freiheit und individuelle Verwirklichung versprach â wer sagte erstickenden Smog, lähmende Staus und eine enorme Schädigung des Ãko-Systems Erde voraus?
Das andere Problem ist: Einschlägige Trendforscher und Prognostiker arbeiten sehr häufig für Unternehmen, die an der neuen Technik verdienen. Sie sind selber in techniknahen Berufen ausgebildet und neigen in der Folge in hohem MaÃe zum Technikdeterminismus. Sie bestimmen gemeinsam mit technikverliebten Ingenieuren den Diskurs: Der technische Fortschritt diene automatisch dem Wohl der Menschheit; und wenn Dinge technisch möglich seien und technisch sinnvoll
erschienen, dann würden sie deswegen demnächst auch eintreten. Der Technik-Guru und ehemalige Chefredakteur der Kultzeitschrift Wired, Kevin Kelly, hat kürzlich ein Buch mit dem Titel Was die Technologie will geschrieben â und einer der am häufigsten benutzten Ausdrücke darin ist das Wörtchen »unausweichlich«.
Unausweichlich sind die Dinge aber selten. William Fielding Ogburn begründete vor hundert Jahren eine Forschungsrichtung der Technik-Soziologie, die solche Zusammenhänge fundamental in Frage stellte. Ogburn erkannte, dass die Entwicklung bahnbrechender Technologien wie die des Webstuhls, des Automobils (oder heutzutage würde er sagen: des Internet) längst nicht nur ein Verdienst der Ingenieure war. Und dass deshalb auch nicht die Ingenieure die besten Vorhersagen darüber treffen, ob und wie sich eine Technik entwickelt.
Stattdessen entsteht, gedeiht und verbreitet sich Technik im regen Wechselspiel mit sozialen und wirtschaftlichen Faktoren. Sie sind auf kulturelle Reaktionen angewiesen und auf die soziale Bereitschaft der Gesellschaft, die neue Technik aufzunehmen. Häufig werden diese ganzen sozialen Prozesse nicht ausgelöst, wenn die Technik brandneu ist, sondern ungefähr in der zweiten Generation nach ihrer Einführung. Dann bemerken Menschen die negativen Nebenwirkungen, dann beschweren sie sich bei ihren Politikern, dann wird die Entwicklung gebremst und neu reguliert.
Das hat übrigens nicht nur Ogburn so gesehen. Allen groÃen Innovationstheoretikern sind solche Zusammenhänge früher oder später aufgefallen: »Technologische Systeme sind soziale Produkte«, brachte es in den neunziger Jahren Manuel Castells auf den Punkt, ein Soziologe und prominenter Internetexperte an der University of California. Technische und unternehmerische Eliten unterschätzen oft die Dauer und Bedeutung solcher Debatten und Prozesse.
Und das Internet? Ist nicht weit von seinem nächsten Tipping Point entfernt.
2. Schreibtisch unter Dauerfeuer â Warum es heute gefährlich ist, einen Computer einzuschalten
Die Nachricht, die Karen McCarthy beinahe in den Bankrott getrieben hat, erreichte ihren elektronischen Eingangskorb im Februar 2010. Oder vielleicht ist es im Januar gewesen. Oder noch früher.
Es gehört zum Mysterium ihrer Geschichte, dass sich die New Yorker Unternehmerin nicht einmal daran erinnert, was in der verhängnisvollen E-Mail stand. Vielleicht wurde ihr ein brandneues Diätmittel angepriesen oder eine lukrative Verdienstmöglichkeit daheim am Computer. Vielleicht hat man sie dazu aufgefordert, auf die Bikinifotos kontaktfreudiger Nymphen aus dem Ostblock zu klicken oder sich für eine Penisverlängerung zu interessieren. Karen McCarthy, die langjährige Geschäftsführerin einer New Yorker Marketingfirma namens Little & King, war ganz bestimmt keine geeignete Empfängerin für so etwas. Doch den Sendern von Massen-E-Mails, unerwünschten »Spam«-Nachrichten, ist das egal.
Zu recht. Denn die Nachricht an Karen McCarthy erreichte so oder so ihr Ziel.
Irgendwer im
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