Zeitbombe Internet
Frontalangriff auf den »an Datenfettsucht« leidenden Kraken Google begonnen. Aus Amsterdam pflichtet ihm der Medienexperte Geert Lovink bei: »Für Google sind Balzacs gesammelte Werke abstrakter Datenmüll, ein Rohstoff, während sie für die Franzosen die Epiphanie ihrer Sprache und Kultur darstellen.« Zur Rettung des Abendlandes vor digitalen Ãbergriffen werden regelmäÃig tagende, weltweit orientierte Komitees gefordert, Regierungsverbote, die Zertifizierung von Suchmaschinen, der Zwang zu sozialeren Kriterien bei der Katalogisierung des Wissens im Internet.
Als wäre das nicht genug, haben sich viele Staaten schon daran gemacht, das Internet zu zensieren, einzuhegen, zu kontrollieren. Manche Regierungen halten das für eine kulturelle Notwendigkeit. Andere für eine entscheidende Frage von geostrategischem Interesse. Einige Politiker aus ganz unterschiedlichen Ecken des Planeten haben sich zuletzt dafür ausgesprochen, die Vorherrschaft der Amerikaner im Netz zu beenden. Es gehe auch nicht mehr an, dass amerikanische Behörden das Netz missbrauchten, um ihren unersättlichen Hunger nach Bankdaten, Fluginformationen und Daten aller Art über Bürger in fernen Ländern zu stillen. Andere fordern, dass der Vormarsch internationaler Konzerne nicht die zukünftige Ordnung im Netz bestimmen dürfe. Wieder andere wollen einschränken, welche Technologien zum Einsatz kommen dürfen: die Regimes in Bahrain und Saudi-Arabien, aber auch die groÃe Demokratie Indien wollen beispielsweise nicht zulassen, dass der Smartphone-Hersteller Research in Motion (»Blackberry«) den Versand verschlüsselter Nachrichten erlaubt, die ihre Geheimdienste nicht im Bedarfsfall abhören können. Iran schaltete Facebook ab. China besitzt eine groÃe Cybermauer, die das Internet filtert. Tunesien ist lange Jahre brutal gegen politisch Andersdenkende vorgegangen, die sich im Internet äuÃerten, und benutzte erstaunlich fortschrittliche Methoden zur Analyse des Netzverkehrs. Diese Länder â
allen voran China â reklamieren für sich das Recht, den kompletten Datenverkehr innerhalb ihrer Landesgrenzen zu überwachen.
Wann kommt der groÃe Absturz? Und was kommt danach?
Das Internet stöÃt an technische Grenzen, es steht unter der Attacke von Kriminellen, Unternehmer stellen seine Grundprinzipien in Frage. Benutzer des Internet, Verantwortliche in der Politik und sogar die euphorischen Macher in der Industrie begreifen inzwischen: Die offenen und ungesicherten Strukturen, mit denen das Netz von seinen idealistischen Gründervätern ausgestattet wurde, versagen gerade im groÃen Stil. Sie sind nicht auf die Schnelle zu reparieren. Die Fundamente wackeln.
Taugt das Internet in seiner heutigen Form überhaupt als Infrastruktur für eine neue Wissensgesellschaft? Ist es eine gute Idee, wenn Wissenschaftler und Unternehmer heute an ihren Visionen vom ubiquitären Computer arbeiten â am weltweit zusammengeschalteten Riesenrechner, der immer dabei ist und uns niemals alleine lässt? Kann das dann wirklich die Basis sein für jene hochproduktive, extraturboglobalisierte Weltwirtschaft, die uns für die kommenden Jahre versprochen wird? Oder, wenn es denn sein muss, als Gedächtnis, Kollektivbewusstsein und Zukunft eines neuen Menschen?
Die Internetwirtschaft und ihre Visionäre sind schon einmal abgestürzt. Ende der neunziger Jahre, im gröÃten und überschwänglichsten Boom des vergangenen Jahrhunderts, wurden frisch gegründete Internetkonzerne für Milliardensummen an der Börse gehandelt. Kleine Internetfirmen schluckten Riesenkonzerne mit einer jahrhundertealten Firmengeschichte. Die Prognosen überschlugen sich: Die Zukunft spiele im Cyberspace. In einer Welt unendlicher Möglichkeiten und Gewinne. Alle möglichen Branchen, vom Einzelhandel bis zur Medienwirtschaft, würden durch das Internet unkenntlich verändert.
Die meisten Brancheninsider und Branchenbeobachter â Unternehmer, Politiker und Intellektuelle â übersahen gleichermaÃen, dass das rasante Wachstum der Internetwirtschaft einen Schwachpunkt hatte: Die allermeisten Unternehmen schrieben keinen Gewinn. Sie hatten nicht einmal klare Vorstellungen davon, wie sie jemals einen Gewinn schreiben könnten. Solche Kleinigkeiten würden sich finden, wenn das neue Zeitalter erst angebrochen sei, wischte man die Bedenken
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