Zeitbombe
stauen sich mittlerweile mehr als ein Dutzend Züge, und mit jeder Minute werden es mehr. Was uns das kostet, brauche ich Ihnen sicher nicht zu erklären. Also, geben Sie ein wenig Gas, meine Herren.«
»Und wer sind Sie?«, wollte Hain von dem zweiten Mann wissen. Wieder übernahm der Mann im Anzug das Reden.
»Das ist der Lokführer, den wir extra aus dem Bett geworfen haben, damit diese Scheiße hier so schnell wie möglich aus der Welt geschafft ist. Sein Kollege scheint einen Schock zu haben.«
In den letzten Worten des Mannes schwang im Unterton unüberhörbar Missbilligung mit.
»Was ja nicht so ganz schwer nachzuvollziehen ist, Herr …?«
»Hartmut Bliesheimer.«
Lenz sah dem Mann fest in die Augen, bevor er weitersprach.
»Wir haben es hier, wie Sie sehr richtig bemerkt haben, mit einem toten Menschen zu tun. Und solange wir nicht ganz genau wissen, wie es zu seinem Tod gekommen ist, bewegt sich keiner Ihrer Züge, und es ist mir egal, ob sie sich bis Frankfurt oder von mir aus auch bis nach München stauen. Wir machen unseren Job, nicht mehr und nicht weniger, und das respektieren Sie gefälligst.«
Damit drehte er sich um, warf in der Bewegung der Polizistin, die ihm mit überaus zufriedenem Gesichtsausdruck zu verstehen gab, dass sie seine Ansage zur Gänze unterstützte, einen kurzen Blick zu und setzte sich in Bewegung. Herr Bliesheimer hingegen war offenbar alles andere als zufrieden.
»Wie jetzt? Wann? Hallo, Herr Kommissar, ich spreche mit Ihnen!«
Lenz reagierte nicht auf das Geschrei des Bahnmitarbeiters, sondern stieg langsam den Bahndamm hinauf und hatte kurze Zeit später den oberhalb liegenden Wirtschaftsweg erreicht.
»Netter Kerl«, meinte Hain, nachdem sie neben dem Mazda-Cabriolet des Oberkommissars angekommen waren.
»Ja, finde ich auch«, bestätigte Lenz, während er seinem Kollegen dabei zusah, wie der die Arretierungen des Stoffverdecks löste und das Gestell nach hinten fallen ließ. Als sie im Auto saßen und Hain gerade den Zündschlüssel umdrehen wollte, hörten sie die Stimme von Pia Ritter, die ihnen etwas zurief.
»Wenn der Unsympath jetzt noch mal Theater macht, schmier ich ihm eine«, fluchte Lenz.
Hain ließ den Arm sinken und blickte über seine Schulter zurück zum Eingang des Tunnels, wo die uniformierte Polizistin winkend neben einem Kollegen stand. Die beiden Bahner hatten sich in den Hintergrund verzogen.
»Sieht aus, als hätten sie etwas gefunden.«
»Geh halt runter und schau es dir an. Ich hab keine Lust mehr, mich mit diesem Blödmann auseinanderzusetzen.«
Hain warf seinem Boss einen Blick zu, der bei Lenz alle Alarmglocken zum Klingen brachte.
»Schon gut, Thilo, ich geh mit.«
Im Näherkommen erkannten sie, dass der Beamte, der neben Pia Ritter stand, etwas in der Hand hielt.
»Was ist das?«, wollte Hain wissen, als sie die beiden erreicht hatten.
Der Uniformierte reichte die Kunststofftüte mit dem Fundstück darin an ihn weiter.
»Sieht aus wie einer unserer Dienstausweise«, fiel dem Oberkommissar dazu ein.
»Es ist einer«, bestätigte der Schutzpolizist.
4
Maria Zeislinger griff noch einmal zu der Espressotasse auf der Anrichte, trank den Rest des starken, ganz leicht bitter schmeckenden Kaffees aus und verließ kurz darauf die Wohnung. Zwei Minuten später stieg sie in die Straßenbahn der Linie 4, freute sich über die wegen der Schulferien vielen freien Plätze, setzte sich und war kurz darauf in ihre Unterlagen vertieft.
Seit einem knappen halben Jahr arbeitete sie nun für und mit Bettina Reichelt, einer Galeriebesitzerin aus der Innenstadt. Vom ersten Augenblick an waren sich die annähernd gleichaltrigen Frauen sympathisch gewesen; so sympathisch, dass die Noch-Ehefrau des Kasseler Oberbürgermeisters Erich Zeislinger vermutlich auch ohne Bezahlung dort angefangen hätte. Lenz bezeichnete das monatliche Salär zwar als besseren Beitrag zu den Fahrkosten, doch das war Maria egal. Sie machte den Job nicht wegen des Geldes, sondern weil er ihr Spaß machte. Unglaublichen Spaß sogar.
In all den Jahren als Frau des OB hatte sie darüber nachgedacht, wieder etwas zu arbeiten, doch ihr Mann war strikt dagegen gewesen.
So etwas habe die Frau des Oberbürgermeisters nicht nötig, waren seine Worte.
Sie hatte sich in den letzten Monaten mehr als einmal gefragt, warum sie sich diese Bevormundung überhaupt hatte gefallen lassen, doch eine plausible Antwort war ihr auch nach langem Überlegen nicht eingefallen.
Nun hielt sie
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