Zeitbombe
einen Stapel Unterlagen in der Hand, deren Inhalt für sie und die Galerie eine riesengroße Chance bedeuten konnte. Die Documenta-Gesellschaft, Ausrichterin der weltweit größten Ausstellung zeitgenössischer Kunst, die im folgenden Jahr wieder in Kassel stattfinden würde, hatte einen Teil der Galerie als mögliche Präsentationsfläche für einige der bedeutendsten Exponate angefragt. Sofort waren Bettina Reichelt und sie sich einig gewesen, diese Chance mit Freuden anzunehmen, obwohl dieses Engagement eine große zeitliche Belastung bedeutete. Und deshalb würde sie auch diesen Samstagvormittag in der Galerie verbringen.
Während sie in die Pläne und Skizzen vertieft war, die sie und ihre Chefin in der nächsten Woche als fertiges Konzept bei der Documenta-Gesellschaft präsentieren wollten, setzte sich ein Fahrgast in die Reihe vor ihr, von dem die Freundin des Leiters der Kasseler Mordkommission jedoch keine Notiz nahm. Zunächst jedenfalls nicht. Dann jedoch meldeten die Synapsen in ihrem Hirn, dass sie einen altvertrauten Geruch wahrgenommen hatten. Einen Geruch, den die Frau längst abgehakt und hinter sich geglaubt hatte.
»Hallo, Maria.«
Sie hob den Kopf und sah in das aufgedunsene Bluthochdruckgesicht von Erich Zeislinger.
Ein paarmal hatte sie sich gefragt, wie die erste Begegnung unter vier Augen nach der Trennung zwischen ihnen aussehen würde, wenn es denn jemals zu einer käme, und immer hatten diese Gedanken bei ihr zu einer gewissen Unruhe geführt. Nun jedoch, im Angesicht der Situation, war sie erstaunlich ruhig.
»Was willst du denn hier?«
»Ich möchte gern mit dir reden, Liebes. Nur reden.«
»Kein Interesse.«
»Bitte, Maria. Bitte, sprich mit mir. Um der alten Zeiten willen.«
Maria ließ den Kopf wieder sinken und vertiefte sich erneut in ihre Unterlagen.
»Maria?«
»Verschwinde, Erich«, murmelte sie, ohne ihn anzusehen. »Alles, was wir beide noch zu besprechen haben, klären unsere Anwälte; dafür bekommen sie einen Haufen Geld.«
»Aber das ist doch genau der Grund, warum ich mit dir reden will, Liebes. Ich …«
»Wenn du noch einmal Liebes zu mir sagst«, zischte sie ihn verärgert an, »hau ich dir eine runter, Erich. Lass mich einfach in Ruhe und verschwinde.«
»Gut, gut«, erwiderte er beschwichtigend. »Mein Anwalt hat mich gestern angerufen, nicht, und mir klargemacht, dass wir nur noch eine ganz kleine Chance hätten, unsere Ehe zu retten, Maria. Du hast gestern die Scheidungspapiere unterschrieben, deshalb bin ich hier.«
Er sah sich um.
»Deshalb sitze ich dir hier in dieser Straßenbahn gegenüber, obwohl du weißt, wie sehr ich das Bahnfahren hasse, nicht. Ich will einfach noch einmal mit dir darüber reden, warum wir keine Chance mehr haben sollen. Warum unsere Ehe keine Chance mehr haben soll.«
Maria Zeislinger hob den Kopf und sah ihn an, als sei er ein Außerirdischer.
»Wie bekloppt ist das denn, Erich? Was glaubst du, will man erreichen, wenn man Scheidungspapiere unterschreibt? Dass der Typ, von dem man endlich geschieden werden will, einem am nächsten Morgen in der Bahn auflauert?«
»Nein … Ja …«
»Das klingt ein bisschen, als sei dein selten dämlicher Auftritt heute Morgen ziemlich überstürzt und wenig durchdacht zustande gekommen, lieber Erich«, entgegnete Maria süffisant. »Und ich kann dir versichern, dass es über meinen Entschluss, mich von dir scheiden zu lassen, nicht die Bohne zu diskutieren gibt. Vielleicht hast du es vergessen, aber ich lebe mit einem Mann zusammen, mit dem ich über alle Maßen glücklich bin. Viel glücklicher als in den ganzen Jahren mit dir übrigens. Was also sollte mich zurück in deine Arme treiben?«
Zeislinger tat so, als sei ihre bewusste Provokation nicht bei ihm angekommen.
»Ein Polizist, Maria. Der Mann ist ein einfacher Polizist!«
»Und du bist ein Arsch. Dann doch lieber einen Polizisten.«
Damit raffte sie ihre Unterlagen zusammen und stand auf.
»Und wenn du mich noch einmal belästigst, was du im Moment übrigens ganz massiv machst, gehe ich auf der Stelle zu den Kollegen meines zukünftigen Ehemannes und zeig dich an.«
Zeislinger sprang nun ebenfalls von seinem Sitz hoch und baute sich vor ihr auf.
»Maria, komm zur Vernunft. Du und der Polizist, ihr habt einfach keine Zukunft.«
»Nein, Erich, das siehst du völlig falsch«, entgegnete sie völlig ruhig, während sie ihn zur Seite schob und auf die Tür zustrebte. »Wir haben natürlich eine Zukunft, weil wir immerhin
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