Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
denn sagen, warum er hier ist? Auf keinen Fall …!«
Wilhelm hörte seinen Vater von unten rufen. »Ich fahre jetzt! Ich werde nicht länger warten!«
Wilhelm schob von Schroeter zur Seite und beugte sich über Rohrbach. Der war fast grün im Gesicht, Speichel lief über seine Wange, den Hals entlang und auf das Unterhemd. »Holen Sie einen Stuhl«, sagte Wilhelm, »den da!« Er deutete auf einen Stuhl, der am Fenster stand und auf dem eine verängstigte, junge Frau saß, die bis auf ihre Strümpfe unbekleidet war. Als die beiden Männer nicht reagierten und Wilhelm verdutzt ansahen, ging Wilhelm zu ihr. »Entschuldigen Sie.« Er nahm eine Decke vom Bett und legte sie über ihre Schultern. »Wir brauchen den Stuhl. Am besten verlassen Sie das Zimmer.«
Er nahm den Stuhl, stellte ihn neben Rohrbach und sagte zu den beiden Männern: »Auf drei!« Sie fassten Rohrbach unter den Achseln und an den Beinen, Wilhelm zählte, und dann wuchteten sie ihn auf den Stuhl. Als sie ihn losließen, kippte er zur Seite, murmelte etwas und verdrehte die Augen.
Wilhelm richtete ihn wieder auf. »Jetzt den Stuhl.« Langsam hoben sie den Stuhl an und trugen ihn aus dem Zimmer. »Bringen Sie bitte seine Sachen nach unten«, sagte Wilhelm zu dem Mädchen, das reglos in einer Ecke stand.
Sie schoben den Stuhl den Gang entlang bis zur Treppe, dann stellte sich Wilhelm vor den Stuhl und beugte die Knie. »Legen Sie ihn mir auf den Rücken«, sagte er, »ich werde ihn hinuntertragen.«
Die beiden schwer atmenden Männer sahen ihn ratlos an.
»Auf drei!«, sagte Wilhelm.
Wieder zählte er, und einen Moment später spürte er das Gewicht des halb bewusstlosen Mannes, der leise stöhnte. Langsam ging er gebückt Stufe für Stufe hinunter, während er Rohrbach an den Handgelenken festhielt. Am Treppenabsatz stand die Dame des Hauses, kreidebleich. »Einen Stuhl bitte«, sagte Wilhelm zu ihr. Hastig zog sie einen heran. Wilhelm ließ Rohrbach auf den Stuhl gleiten. »Nun kommen Sie schon!«, rief er nach oben, »es gibt wieder etwas zu tragen.«
Er bemerkte, dass alle anderen das Haus bereits verlassen hatten, von den jungen Damen war ebenfalls keine mehr zu sehen. Berndorff und von Schroeter traten neben ihn, gemeinsam packten sie den Stuhl mit Rohrbach und trugen ihn aus dem Haus, vor dem Berndorffs Wagen mit laufendem Motor stand. Sie wuchteten Rohrbach auf die Rückbank. Von den beiden anderen Fahrzeugen war nichts mehr zu sehen.
»Zur Charité!«, sagte Wilhelm zum Fahrer, der ihn irritiert ansah, und zu Berndorff und von Schroeter: »Und Sie nehmen sich eine Droschke.« Wilhelm setzte sich neben Rohrbach in den Fond, Rohrbachs Kopf sank auf seine Brust.
*
Zwei Stunden später erreichte Wilhelm das elterliche Haus, wo ihm Luise die Tür öffnete. »Ihr Herr Vater erwartet Sie«, sagte sie scheu. »Im Salon.«
Stumm standen sie sich gegenüber, nachdem Wilhelm eingetreten war. Schließlich war es Wilhelm, der das Wort ergriff: »Er lebt, sie haben ihm Sauerstoff gegeben.«
Der Freiherr nickte. »Ich weiß, ich habe einen Anruf erhalten. Aber was viel wichtiger ist: Kein Wort zu deiner Mutter! Wir werden jetzt noch einmal aus dem Haus gehen und zur üblichen Zeit zurückkehren, nach ihr. Wir haben einen wunderbaren Herrenabend im Casino verlebt, es war alles wie immer, leider hat Rohrbach etwas zu viel getrunken – du verstehst …«
»Nein«, entgegnete Wilhelm. »Ich werde schlafen gehen. Ichwerde morgen sehr früh zum Fechttraining erwartet. Einen schönen Abend noch.« Mit einer knappen Verbeugung verließ er das Zimmer.
Wilhelm ging mit schnellen Schritten zu seinem Kleiderschrank. Er zog die unterste Schublade auf und legte einen Stapel Hemden zur Seite. Da lag sie. Lange blickte er sie an, dann nahm er die graue Schirmmütze heraus. Adèles Mütze. Darin befand sich ihr Brief, den sie am Abreisetag in sein Gepäck gelegt hatte. Er hatte ihn seit seiner Rückkehr nach Berlin jeden Tag gelesen. Er brauchte ihn nicht aus dem Couvert zu nehmen, er kannte die Worte, sah sie vor sich, in Adèles kräftiger, schwungvoller Handschrift. Auch wenn sie alle den Verstand verlieren, ich werde den Glauben nicht verlieren , hatte sie geschrieben, den Glauben an Dich und mich . Du bist mir geschenkt worden, und ein Geschenk gibt man nicht zurück, zumindest nicht bei uns in Lothringen. Ich weiß nicht, was Du tun wirst, und ich weiß nicht, wo Du sein wirst, wenn ich Dich brauche. Ich warte auf Dich, irgendwie wirst Du mich finden. Du
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