Zeiten der Hoffnung: Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
hast mich immer gefunden.
Er saß auf der Bettkante und starrte auf den Brief. Auf dich warten andere Dinge , hatte seine Mutter auf der Rückreise im Zug zu ihm gesagt, und du hast sie schon akzeptiert . War es das, was auf ihn wartete – das, was er heute Abend erlebt hatte? War es das, was er angenommen hatte, das Leben, das sein Vater ihm zu Füßen legte? Ja, er hatte Charlotte das Eheversprechen gegeben, weil er wusste, was von ihm erwartet wurde, weil er seine Pflichten kannte. Er sah die Gesichter der beiden jungen Frauen vor sich. Langsam verschwammen sie ineinander.
Er mochte Charlotte wegen ihrer Gradlinigkeit, ihres Charakters, ihrer Ziele. Er musste sich jedoch eingestehen, dass er ihren Entschluss, nach Afrika zu gehen, insgeheim begrüßte. Er hatte sich nie vorstellen können und es sich auch nie ausgemalt, mit Charlotte an seiner Seite ein Leben zum Wohl der Familien, des Kaisers und des Reiches zu führen. In seinen Tagträumen sah er immer nur das eine Gesicht vor sich, das jetzt überdeutlich vor seinem geistigen Auge stand: das Gesicht unter der grauen Mütze, die er in der Hand hielt.
Er würde so bald wie möglich Charlotte treffen müssen und überlegte, was er auf ihre Eröffnung, nach Togo zu reisen, erwidern würde. Aus dem Nebenzimmer vernahm er das Husten, das ihn in den letzten Wochen häufig nachts geweckt hatte. Er hörte, wie Adalbert aufstand, um sich ein Glas Wasser zu holen. Wilhelm erhob sich und ging leise auf den Flur hinaus. Vor der Tür des Kinderzimmers blieb er stehen und lauschte. Sie sprachen miteinander. Der andere Bruder war vom Husten wach geworden, sie stritten. Wilhelm überlegte, ob er in das Zimmer gehen und sie beruhigen sollte, als er den Zigarrengeruch bemerkte. Langsam drehte er sich um.
Am Ende des Flures stand sein Vater. »Der arme Junge«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »woher hat er bloß diese schwache Konstitution? Ich wünschte, ich wäre Arzt und könnte ihm helfen.« Der Freiherr senkte den Blick. »Er ist so ein lieber, kleiner Kerl. Und er vergöttert dich, Wilhelm. Es wird ihm helfen, wenn du mit ihm zu diesem Quacksalber gehst. Egal, was der mit ihm macht: Gib ihm einfach das Gefühl, dass es gut für ihn ist.«
Wasser
Wilhelm war auf die Schrullen und Extravaganzen des berühmten Arztes vorbereitet, entsprechend zurückhaltend betrat er gemeinsam mit Adalbert im Klinikum Lichterfelde das Vorzimmer von Ernst Schweninger. Es schien alles zuzutreffen: Vor dem Gebäude stand ein weißer Vierspänner, mit dem der Professor sich morgens in die Klinik und abends nach Haus kutschieren ließ. Das Empfangszimmer war ausgestattet mit Bildern und Skulpturen, wie Wilhelm sie noch nie gesehen hatte: Portraits und Körper, die so gar nicht den üblichen menschlichen Proportionen entsprachen. Wilhelm und Adalbert betrachteten sie mit Erstaunen.
»Kubisten«, sagte plötzlich eine Stimme. Sie gehörte einer kleinen, älteren Dame, die leise den Raum betreten und schon eine Weile hinter ihnen gestanden hatte, ohne dass sie sie bemerkthätten. »Ernst sammelt die französische Moderne«, fügte sie hinzu und stellte sich vor: »Ich bin die Schwester von Professor Schweninger und versuche, hier ein wenig Ordnung in sein Chaos zu bekommen. Mein Bruder ist eine Plage, glauben Sie mir, junger Mann. Aber vom Gesundmachen versteht er etwas, das muss ich ihm lassen. Folgen Sie mir bitte, er wartet schon auf Sie.«
Auf dem Weg zum Behandlungsraum legte sie Adalbert, der einen Kopf kleiner war als sie, einen Arm um die Schulter und sagte: »Und das mit dem Husten – da machen Sie sich keine Sorgen. Wenn er meinen Husten weggekriegt hat, schafft er das auch mit Ihrem. Und meiner war wirklich – erheblich, mein lieber Adalbert.«
Verblüfft schaute er zu ihr auf. »Woher kennen Sie mich, Madame?«
»Na, weil Sie angemeldet sind, junger Mann. Da muss man sich informieren über die Patienten, nicht wahr?«
»Nun halte die Leute nicht mit deinen Geschichten auf!«, tönte es aus dem Arztzimmer. »Die jungen Leute haben genug um die Ohren. Keine Zeit, keine Zeit – so ist das heute bei den jungen Menschen, stimmt’s?«
In einem Ohrensessel am Fenster saß ein kleiner, drahtiger Mann in Tenniskleidung. »Kommen Sie, kommen Sie!« Er winkte Wilhelm und Adalbert mit der Hand. »Nicht so schüchtern.«
Die beiden stellten sich nebeneinander vor ihm auf und warteten wohlerzogen auf die Begrüßung. Aber zunächst wanderte der Blick des Arztes zwischen ihnen hin und
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