Zeitenlos
ungefähr eine Stunde entfernt, und während der Fahrt hatte ich reichlich Zeit, mir zu überlegen, was ich sagen wollte. Ich kam schließlich zu dem Ergebnis, dass dieses Gespräch nicht eingeübt werden konnte. Außerdem wusste ich nicht, wie fit sie geistig noch war. Ich würde es also darauf ankommen lassen müssen.
Als ich ankam, war ich beeindruckt. Es war eine wunderschöne Anlage an einem See. Das Hauptgebäude war gelb, hatte große weiße Säulen und sah aus wie eine Ferienanlage. Als ich durch den Haupteingang ging, rechnete ich im Stillen trotz der tollen Fassade mit Krankenhausatmosphäre. Doch alles war zwar blitzsauber, jedoch viel gemütlicher, als ich erwartet hatte.
Ich ging zur Rezeption. »Ich möchte zu Maria Emerson«, sagte ich zu der Schwester.
Sie warf mir über den Rand ihrer Lesebrille einen überraschten Blick zu. »Und wer sind Sie?«
»Mein Name ist Sophie Slone.«
Sie musterte mich von oben bis unten. »Mrs Emerson bekommt normalerweise keinen Besuch.«
Ich verstand nicht, was sie meinte. »Warum nicht?«
»Sie hat keine Familie. Oder gehören Sie zur Familie?«
Ich sah mich im Empfangsbereich um. Alles machte einen sehr freundlichen Eindruck. Wer kümmerte sich hier um sie? »Wenn sie keine Familie hat, wer bezahlt dann für ihren Aufenthalt?«, fragte ich.
Sie lächelte milde. »Das darf ich Ihnen nicht sagen.« Ich holte tief Luft. »Aber da wir den Namen nicht kennen, breche ich wohl keine Regeln, wenn ich Ihnen verrate, dass ihr Aufenthalt von einem anonymen Sponsor bezahlt wird.«
»Interessant«, sagte ich lauter als geplant. Sie sah mich erstaunt an, deshalb riss ich mich zusammen. »Kann ich sie bitte sehen?«
»Sicherlich. Sie ist in Suite 2036. Durch die Lobby, mit dem Fahrstuhl hoch und dann links.«
»Danke.« Ihren Angaben folgend erreichte ich die Suite. Vor der Tür zögerte ich und wünschte mir plötzlich, dass ich Wes an meiner Seite hätte, aber es war zu spät. Jetzt musste ich allein hier durch. Ich gab mir einen Ruck und klopfte leise. Als keine Antwort kam, spähte ich vorsichtig in das Zimmer.
Mrs Emerson lag im Bett vor einem offenen Fenster mit Blick über den See. »Mrs Emerson?«, flüsterte ich, als ich auf Zehenspitzen den Raum betrat. Sie antwortete nicht. Ich ging langsam näher und setzte mich leise auf den Stuhl neben ihrem Bett. Sie lag ganz ruhig da. So ruhig, dass ich nachsah, ob sie atmete und nicht etwa tot war. Gott sei Dank schlief sie nur. Ich betrachtete sie und suchte nach etwas, das meine Erinnerung ankurbelte. Mir fielen keine äußerlichen Ähnlichkeiten auf, aber ich fühlte eine eigenartige Verbindung zwischen uns.
Während sie schlief, nutzte ich die Gelegenheit, mich in ihrem Zimmer umzusehen.
Überall standen frische Blumen, da waren Bücher, Zeitschriften und Schreibblöcke und sogar ein Klavier. Es sah so aus, als hätte sie reichlich Beschäftigung. Während ich so dasaß, konnte ich sie fast Klavier spielen hören. Ich musste lächeln. Als ich mich wieder zu ihr drehte, fielen mir ein kleiner runder Tisch und ein Stuhl auf. Auf dem Tisch stand eine Teetasse, die genau zu der passte, die Wes meiner Mutter geschenkt hatte.
Eine Bewegung im Bett ließ mich hochschrecken. Die Frau blickte mich an.
»Entschuldigung, ich wollte Sie nicht wecken.« Ich sprach leise und senkte den Kopf, sodass mir das Haar ins Gesicht fiel.
»Lenore?«, flüsterte sie mit einer zittrigen, aber gleichzeitig erwartungsvollen Stimme.
Ich war mir nicht mehr sicher, ob es richtig gewesen war, hierherzukommen und blickte wie gelähmt weiter auf den Boden.
»Lenore, bist du das?«
Einladend streckte sie mir eine Hand hin, und ich ergriff sie. Die Haut war runzelig, aber sie fühlte sich überraschend weich an, als ich meine Hand in ihre legte. Ich konnte mich immer noch nicht überwinden, sie anzusehen. Ich hatte Angst, dass sie zwischen mir und Lenny einen Unterschied bemerken könnte. Und das wäre schlimmer, als wenn ich überhaupt nicht gekommen wäre.
Sie drückte meine Hand, so fest sie konnte. »Er hatte recht. Er hat gesagt, dass du zurückkommen würdest, und ich habe ihm nicht geglaubt«, flüsterte sie. Sie bewegte sich mühsam, bis sie ihre andere Hand auf meine legen konnte. »Lenore, sieh mich an. Ich habe fünfundvierzig Jahre darauf gewartet.«
Ich kniff die Augen zu und holte tief Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Widerwillig hob ich den Kopf und strich mir das Haar aus dem Gesicht. Ich fühlte ihren durchdringenden
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