Zeitenlos
bekommen.« Wir waren an einer der Haltepunkte des Landungsstegs angekommen, und er drehte sich zu mir, um mich anzusehen. Die schwarze Kulisse der Nacht machte es mir schier unmöglich, etwas anderes als seine Anziehungskraft wahrzunehmen.
»Weshalb musstest du einen klaren Kopf bekommen?«, fragte er.
Ich musste meine Worte sorgfältig abwägen, wollte aber auch nicht mehr als nötig um den heißen Brei herumreden. »Sieh mal«, sagte ich. »Ich weiß doch gar nicht, wer du eigentlich bist. Aber du weißt alles über mich und hast sogar schon meine Mutter kennengelernt. Ganz ehrlich, für mich bist du einfach zu perfekt, um wahr zu sein.«
Er schüttelte den Kopf und blickte auf seine Füße. »Ich bin alles andere als perfekt.«
»Das finde ich nicht. Du bist unglaublich erwachsen, weißt genau, was du willst, trägst Verantwortung und besitzt ein eigenes Haus.« Ich lehnte mich ans Geländer und blickte auf das Wasser hinunter. »Deine Eltern müssen wirklich richtig liebe Menschen gewesen sein.«
»Das waren sie«, antwortete er und stellte sich neben mich.
»Es wundert mich, wie du mit allem klarkommst.« Ich zögerte und hoffte, dass mein Misstrauen nicht zu offensichtlich war. »Wie alt warst du, als dein Vater starb?«
»Ich war drei«, antwortete er prompt. Ich sah wieder auf das Wasser hinaus und bemühte mich, nicht zu einstudiert zu klingen. Da fiel mir etwas ein, woran ich vorher noch gar nicht gedacht hatte.
»Also hat dich deine Mutter allein großgezogen? Oder hattest du einen Stiefvater?«
Er schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Nein, meine Mutter hatte niemanden. Nach dem Tod meines Vaters hat sie ihr Leben damit verbracht, sich um mich zu kümmern.« Er starrte gedankenversunken ins Wasser. »Ich schulde ihr mehr, als du dir vorstellen kannst.«
»Sie muss eine tolle Frau gewesen sein«, warf ich mitfühlend ein. Ihm zuzuhören, wie er scheinbar offen und ehrlich mit mir redete, ließ mich beinahe vergessen, was ich herausgefunden hatte.
»Ich glaube nicht, dass ich so stark sein könnte wie du«, fuhr ich fort.
»Unterschätz dich nicht.«
»Tue ich nicht. Es ist wahr. Wenn meiner Mutter etwas passieren würde, wäre ich ganz allein. Ich hätte niemanden. Du hattest zumindest noch deinen Onkel.« Das war keine Frage gewesen, ich hoffte aber trotzdem auf eine Antwort.
»Ja, das stimmt. Ich hatte viel Glück.«
Mein Mitleid verwandelte sich so langsam in Wut, aber ich behielt die Fassung. »Hat er dir alles beigebracht, was du weißt, oder war es deine Mutter?«
Er dachte einen Moment nach. »Vermutlich beide.«
»Wie meinst du das?«
Eine Gruppe von Mädchen und Jungen näherte sich, die etwas zu ausgelassen war, um die Unterhaltung ungestört fortsetzen zu können. Er wartete, bis sie vorbei war.
»Meine Mutter hat mich gelehrt, freundlich und hilfsbereit zu sein, mein Onkel, wie man auf sich aufpasst.«
Es klang alles so schön – wenn es nur wahr gewesen wäre. Ich hatte keinen Bock mehr darauf. Mir war klar, dass das alles nicht zu dem passte, was ich herausgefunden hatte, und trotzdem war er so überzeugend. Frustriert fragte ich: »Warum erzählst du mir das?«
Er blickte mich verwirrt an. »Weil du gefragt hast.«
»Nein, ich meine, warum erzählst du mir Sachen, die nicht wahr sind?«
Er richtete sich auf und sah mich an. »Ich weiß nicht, was du meinst.« Seine Stimme war ruhig, aber seine Augen musterten mich eindringlich.
»Du hast gesagt, dass dein Vater gestorben ist, als du drei warst. Ich habe einen Zeitungsartikel gefunden, in dem steht, dass er letztes Jahr ums Leben gekommen ist.«
Seine Augen verengten sich, während er die Information verdaute. »Der Artikel handelte nicht von meinem Vater.«
»Willst du mir erzählen, dass es mehr als einen Weston Wilson II . gibt, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist?«
»Nein …«
»Schau mal, Weston, ich will hier nichts zur Sprache bringen, was für dich schmerzhaft ist, aber ich mag es nicht, wenn man mich belügt.«
»Ich lüge nicht.« Seine Aufmerksamkeit wurde durch etwas hinter ihm abgelenkt. Ich sah mich ebenfalls um und folgte seinem Blick. Die Gruppe, die gerade an uns vorbeigelaufen war, konnte ich kaum noch sehen und auch nicht hören, doch es schien, als würde einer von ihnen auf das Geländer klettern. Ich konzentrierte mich wieder auf unser Gespräch. »Und warum hast du mir dann erzählt, dass du bei einem Onkel gewohnt hast, der vor fünfzig Jahren gestorben ist?«
Sein
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