Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
ich wartete, bis die Luft endlich rein war. Diesmal hatte ich mehr Glück. Als ich vorsichtig meine Deckung verließ und nach allen Seiten lauschte, war weit und breit nichts zu hören. Nur eine Katze, die maunzend um ein Fass herumstrich, aus dem es penetrant nach Fisch stank.
Ohne den Umhang kam ich besser vorwärts. Die Nachtkühle machte mir nichts aus, denn mir war sowieso viel zu warm von der vielen Lauferei. Für den restlichen Weg dachte ich mir eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme aus, nur für den Fall, dass Sebastiano einfach auf dem Pont Notre-Dame auf mich wartete, um mich da abzufangen. Ich wollte über den Pont Neuf zurückgehen, auch wenn es ein Umweg war. Geduckt und so leise wie möglich huschte ich über die Place Dauphine, einen großen, dreieckig geformten Platz, der die Spitze der Île de la Cité bildete und auf dem Pont Neuf mündete.
Dort musste ich jedoch meinen Plan wieder ändern. Vor dem großen Reiterstandbild auf der Brücke patrouillierten mehrere Wachleute, die mich bestimmt nicht ohne Kontrolle vorbeilassen würden. Schwitzend und erschöpft kehrte ich um und marschierte zurück bis zum Pont au Change, wo ich stehen blieb, die Augen zusammenkniff und zum anderen Ufer hinüberstarrte. Mittlerweile konnte ich im Mondlicht erstaunlich gut sehen. Ich hatte festgestellt, dass es umso besser klappte, je weniger Laternen oder Fackeln in der Nähe waren. Es war zwar alles grau in grau und sehr verschwommen, aber die Umrisse der Gebäude und der Verlauf der Straßen ließen sich noch erkennen. Auf der Brücke vor mir war niemand. Ich holte tief Luft und rannte los.
In der Mitte der Brücke überkam mich dasselbe kurze Erschauern wie immer an dieser Stelle. Wahrscheinlich war es nur eine psychologische Sache, weil ich ja wusste, dass hier das Zeitportal war. Es lag an der Vorstellung, die ich damit verband – ein kompliziertes Geflecht unterschiedlicher Pfade aus Vergangenheit und Zukunft, die sich hier kreuzten und vereinigten. Nur einen Atemzug davon entfernt gab es Äonen vorgeschichtlicher Epochen, uralte Zeiten vor der Entstehung der Menschheit, und vielleicht auch welche, in denen es überhaupt keine Menschen mehr geben würde. Ganz zu schweigen von den Zeiten, die parallel zu den uns bekannten existierten, Nebenflüsse der Geschichte, die in unerwünschten Sackgassen endeten. Diese Sackgassen mussten regelmäßig vom Hauptstrom der Geschichte abgeschnitten werden, so hatte Sebastiano es mir einmal erklärt, denn sonst würden sie durch eine Art Rückkopplung über kurz oder lang zu etwas führen, das um jeden Preis zu verhindern war: totale Entropie.
Natürlich hatte ich vorher noch nie was davon gehört. Ich hatte sofort gefragt, ob es was mit Physik zu tun habe (in dem Fall hätte ich den Rest sowieso nicht kapiert), aber Sebastiano hatte gemeint, es sei zwar ein physikalischer Begriff, im Grunde jedoch nur ein anderes Wort für Auflösung. Und zwar nicht im Sinne von Auflösung im Kreuzworträtsel, sondern Auflösung in Schwefelsäure. Und was das bedeutete, konnte man sich leicht vorstellen.
Ich war froh, als ich die Stelle passiert hatte und mich dem anderen Ufer näherte. Dort verlangsamte ich meine Schritte ein wenig, denn ich war völlig ausgepumpt und kam mir vor wie nach einem besonders brutalen Vormittag bei Herrn Schindelmeier. Sicher war das auch der Grund dafür, dass ich unaufmerksam wurde, denn ich bemerkte die Gestalt, die mir am Ende der Brücke in den Weg trat, erst in dem Moment, als ich in sie hineinlief.
Mit einem entsetzten Aufschrei sprang ich zurück.
»Du liebe Zeit, mach doch nicht so einen Lärm!«, sagte die Gestalt erschrocken.
»Gaston!« Erleichtert stöhnte ich auf. »Ich dachte, es wäre Sebastiano.«
»Wieso, ist er hinter dir her?«
Ich nickte stumm, eine Hand auf mein jagendes Herz gepresst und die andere um den Beutel gekrampft, den ich wie immer um den Hals trug. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich an irgendwas festzuhalten.
Gaston spähte über meine Schulter. »Ich kann ihn nirgends sehen.«
»Ich habe ihn abgehängt.« Plötzlich fing mein Nacken wieder an zu jucken. »Mist, ich glaube, er ist immer noch hinter mir her.« Beunruhigt spähte ich über die Brücke. »Siehst du da jemanden?«
»Nein.«
»Er ist hinter den Brillanten her. Aber die verwahre ich sicher.«
»Echt? Wow!« Neugierig deutete er auf den Beutel, den ich immer noch festhielt. »Hast du sie da drin?«
»Wie? Oh, nein, da habe ich nur meine Maske, so
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