Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
Schlag gegen das Kinn zu verpassen, verfehlte jedoch in beiden Fällen das Ziel. Es war, als hätte er vorher gewusst, was ich vorhatte.
»Die Sache ist die«, sagte er neben meinem Ohr. »Ich habe diese Kurse auch besucht.«
»Anna!« Das war Sebastianos Stimme. Sie kam von der Île de la Cité. Er war da drüben und hatte uns gesehen!
»Hilfe!«, brüllte ich. Das heißt, ich wollte es brüllen, aber wegen Gastons Schraubstock-Griff kam es nur als ersterbendes Ächzen heraus.
»Anna!« Diesmal hörte es sich nicht mehr so weit entfernt an. Sebastiano kam näher.
»Scheiße«, sagte Gaston. Bevor ich richtig mitbekam, was er vorhatte, packte er meinen Kopf mit beiden Händen und schlug ihn hart gegen das Brückengeländer. Mir wurde schwarz vor Augen. Wie aus weiter Ferne spürte ich, dass er mich hochhob und über das Geländer wuchtete. Ich fiel und fiel, genau wie in meinem Albtraum. Es platschte laut, und dann umgab mich nur noch Wasser. Wie ein Stein sank ich in die Tiefe, in der kein Oben und kein Unten mehr existierte, nur noch gleichförmiges Schwarz. So war es also, wenn man starb. Es gab keinen Schmerz und keine Angst. Nur Bedauern. Vor allem darüber, dass Sebastiano und ich im Streit auseinandergegangen waren. Das war vorher noch nie passiert. Wir hatten uns zwar manchmal – ganz selten – gezofft, aber immer darauf geachtet, dass wir uns schnell wieder vertrugen. Genau wie ich hatte er panische Angst davor, dass ausgerechnet nach einem Streit einem von uns was passieren könnte, und dann wäre das Letzte, was man zu einem geliebten Menschen gesagt hätte, so was gewesen wie Du kannst mich mal oder Raus hier . Dummerweise war mir exakt das bei Sebastiano passiert. Hoffentlich machte er sich keine Vorwürfe deswegen. Es reichte schon, dass ich mir welche machte, auch wenn ich gerade im Begriff war, sie mit in mein nasses Grab zu nehmen.
Ich stellte mir vor, wieder auf der Brücke zu stehen und meinen Eltern zuzuwinken. Mama, Papa, auf Wiedersehen. Bitte seid nicht so traurig. Und sucht nicht nach mir, denn ich bin in der Zeit verschollen.
Ich trieb in einem endlosen Strudel der Finsternis. Doch halt, es war nicht völlig dunkel. Ein schmaler Lichtbogen glomm vor meinen geschlossenen Augen auf. Von irgendwoher kam ein Vibrieren und erfasste mich. Vielleicht war es der Flügelschlag der himmlischen Wesen, die mich wegbrachten, und das Leuchten war ihre Aura. Was immer es war, es holte mich fort. Dann war alles um mich herum tot und erloschen. Es gab mich nicht mehr.
TEIL VIER
Tag sieben
Paris, 2011
I
ch hustete und keuchte und kam dann würgend und spuckend endgültig wieder zu mir. Da ich nicht tot war, musste ich einen Zeitsprung hinter mir haben. Die Maske hatte mich gerettet. Aber wo um alles in der Welt war ich gelandet? Ein tobendes, kreischendes Monster raste auf mich zu, mit riesigen blinkenden Augen und einem Maul voller metallener Zähne. Ich warf mich im letzten Augenblick zur Seite, bevor es mich fressen konnte. Es rollte mit Getöse auf großen schwarzen Reifen an mir vorbei, und ich sah, dass es ein Müllwagen war. Er ließ ein letztes ohrenbetäubendes Hupen ertönen, dann fuhr er weiter.
Benommen sah ich mich um. Keine Frage, ich war zurück. Das hier war Paris. Trübes Tageslicht, mieses Wetter, und unter mir floss die Seine dahin. Ich trug noch das Kleid aus der Vergangenheit, befand mich aber in der Gegenwart. Überall waren Autos, jede Menge Fußgänger mit Regenschirmen. Ich war völlig durchgefroren und pitschnass, hockte im Rinnstein auf dem Pont au Change und hatte den schlimmsten Brummschädel meines Lebens.
Alles war umsonst gewesen. Sebastiano steckte für immer in der Vergangenheit fest, und ich konnte nicht mehr zu ihm zurück. Diese Ahnung ging nahtlos in den größten Heulkrampf aller Zeiten über. Ich bestand nur noch aus rabenschwarzer, abgrundtiefer Verzweiflung. Wie sollte ich ohne Sebastiano weiterleben? Ich schluchzte zum Steinerweichen und wollte einfach bloß tot sein. Am besten wäre, wenn ich wieder ins Wasser sprang und den Fluss vollenden ließ, was die Maske unterbrochen hatte.
»Mademoiselle?« Eine stämmige Frau mit Regenschirm stand vor mir und blickte mitleidig auf mich herab. Ihr Gesicht unter dem Schirm sah seltsam grünlich aus, fast so wie bei Shrek. Eine Sekunde lang befürchtete ich, ich sei in einem Paralleluniversum mit Aliens gelandet, doch dann merkte ich, dass sie nur deshalb so aussah, weil ihr Schirm giftgrün war. Sie fragte mich
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