Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
legte das Handy weg, um mich kurz auszuruhen, bis die scheußlichen Kopfschmerzen nachließen. Es war nicht geplant, dass ich dabei einschlief, doch als ich aufwachte, war es draußen schon dunkel. Erschrocken schaute ich auf mein Handy – halb acht. Ich hatte den ganzen Tag geschlafen.
Immerhin hatte es mir gutgetan, ich fühlte mich deutlich besser. Auch mein Kopfweh hatte nachgelassen.
Mittlerweile knurrte auch mein Magen. Der Einfachheit halber ging ich ins nächstbeste Bistro und bestellte mir eine Tasse Suppe, und während ich sie aß, las ich den Eintrag über die Königin fertig. Das heißt, ich wollte ihn lesen, fand ihn aber nicht mehr. Hektisch fing ich an zu surfen, doch Anne d’Autriche war aus dem Internet verschwunden. Auch der König war nicht mehr zu entdecken, und Richelieu war ebenfalls weg. Ein Kardinal dieses Namens schien nie existiert zu haben. Allesamt waren sie wie ausradiert, Google zeigte mir nur belanglose Einträge, die mit den mir bekannten historischen Personen nichts zu tun hatten. Dasselbe auf allen möglichen anderen Suchseiten. Ich versuchte es mit Ludwig dem Vierzehnten – nichts. Sogar das E-Book über Die drei Musketiere war gelöscht, auch Google schien das Buch nicht mehr zu kennen. Es gab zwar noch jede Menge d’Artagnans, doch keiner davon war ein Musketier.
Abrupt schob ich die Suppentasse weg. Vorhin hatte ich noch Hunger gehabt, aber jetzt war mir der Appetit vergangen. Panik breitete sich in mir aus, als ich begriff, was dieses seltsame Verschwinden bedeutete: Die Vergangenheit war in der Schwebe. Eine Art Schieflage im Jahr 1625, von der aus sich die drohende Auflösung ausbreiten und die ganze Zukunft erfassen würde. Plötzlich bekam ich einen sehr handfesten Eindruck davon, was mit Entropie gemeint war. Mit ein paar blinden Flecken im Internet fing es an, und mit rauchenden Trümmern würde es enden.
Es hielt mich nicht mehr in dem Restaurant. Ich bezahlte die Suppe und ging nach draußen. In den folgenden Stunden marschierte ich durch den alten Stadtkern und suchte nach den Orten, die ich aus dem siebzehnten Jahrhundert kannte. Die Rue du Jour gab es noch, aber von den Häusern dort erkannte ich keines wieder. Auch das Marktviertel sah anders aus. Ich fuhr mit der Metro zur Place de la Bastille, doch das turmbewehrte Gefängnis war verschwunden; an der Stelle befand sich eine große Säule mit einem vergoldeten Engel.
Die nahegelegene Place Royale war zu meinem Erstaunen kaum verändert, abgesehen davon, dass sie jetzt Place des Vosges hieß. Die große Fläche war begrünt, aber die barocken Häuserreihen sahen fast genauso aus wie im Jahr 1625. Mit klopfendem Herzen schritt ich die Arkaden ab und blieb vor dem Palais stehen, in dem ich gestern noch gewohnt hatte.
Anschließend ging ich in Richtung Fluss und hinüber zur Île de la Cité. Die Umgebung von Notre-Dame hatte sich – abgesehen von der Kathedrale selbst – ebenfalls stark verändert. Die Gasse mit dem Haus des Pfandleihers war verschwunden, ebenso wie die meisten anderen Gebäude, die ich gestern Abend noch hier gesehen hatte. Bevor sich meine Gedanken wieder im komplexen Feld der Paradoxa verirren konnten, machte ich mich auf zum Pont au Change, denn bis zu Josés Eintreffen würde es nicht mehr lange dauern. Inzwischen hatte ich einen ordentlichen Fußmarsch hinter mir, aber die stundenlange Bewegung an der frischen Luft hatte mich abgelenkt, und die Kopfschmerzen waren auch fast weg.
Als ich die Brücke betrat, traute ich meinen Augen nicht. Ungläubig näherte ich mich der heruntergekommenen Gestalt, die dort auf einem Stück Pappe hockte. Das war der für das Portal zuständige Alte! Ich hatte ihn gefunden!
Aufgeregt blieb ich vor ihm stehen. »Da sind Sie ja!«, rief ich. »Gott sei Dank! Ich wollte schon die ganze Zeit mit Ihnen reden!« Der Mann blickte aus trüben Augen zu mir auf und lächelte mich zahnlos an. Er stank wie ein Fass voller Fusel, und seine rotgeäderte Nase sah aus, als hätte er sich schon Hektoliter von Pastis hinter die Binde gegossen. Alles in allem war seine Aufmachung wirklich täuschend echt, vor allem die fehlenden Zähne.
»Wahnsinn«, entfuhr es mir. »Das sieht so … realistisch aus!«
Der Alte kniff ein Auge zu und nahm einen Schluck aus seiner Schnapsflasche.
»Ist Gaston schon hier?«, wollte ich wissen. Meine Stimme überschlug sich vor Eifer. »Wissen Sie, was er sich für ein Ding geleistet hat? Er hat versucht, mich umzubringen! Und er hat die
Weitere Kostenlose Bücher