Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
lange nicht mehr gesehen, sie kam und ging wie ein Schatten und blieb nie lange an einem Ort oder in einer Zeit.
Gedankenverloren rieb ich mir den Nacken. Dann musste ich stärker reiben, denn es fing auf einmal an zu jucken. Ein Mann stand unten vorm Haus und schaute zu mir herauf! Er trug eine Baskenmütze, die er in die Stirn gezogen hatte, deshalb konnte ich das Gesicht nicht ganz sehen. Aber seine Aufmerksamkeit galt allein mir, daran bestand kein Zweifel. Der Mann hatte eine normale Statur und sah auch sonst nicht ungewöhnlich aus. Er war irgendwas zwischen vierzig und sechzig, genauer konnte man das wegen der Kappe nicht einschätzen, und er trug einen Trenchcoat. Die Hände hatte er in die Manteltaschen geschoben. Unsere Blicke kreuzten sich für den Bruchteil einer Sekunde. Im nächsten Augenblick zog er sich zurück und verschwand unter den Bäumen. Das Jucken in meinem Nacken ließ nach, doch ich hatte es mir auf keinen Fall eingebildet. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht!
Ich vergewisserte mich, dass ich die Zimmertür abgeschlossen hatte, dann versuchte ich, José anzurufen, bekam aber wieder nur die Bandansage. Nervös sah ich auf die Uhr. Eigentlich hatte ich noch duschen wollen, denn in der Vergangenheit würde ich darauf verzichten müssen. Doch meine Fantasie machte sich gerade selbstständig. Ich hatte alles plastisch vor Augen. Frau nackt in der engen Duschkabine, überall Wasserdampf. Kamerafahrt auf den Duschvorhang, er wird zur Seite gerissen, und dann das große Schlachtermesser. Nein, ich würde jetzt ganz sicher nicht duschen, egal, wie lange ich ohne Badezimmer auskommen musste.
Stattdessen beschloss ich, sofort zu der Brücke zu gehen. Dann wäre ich eben etwas früher da und konnte mich wenigstens nicht verspäten. Mein Gepäck und die Handtasche mitsamt Geldbörse, Papieren und iPhone gab ich an der Rezeption ab, mit der Bitte, alles für mich aufzubewahren. Die Empfangsdame nahm die Sachen höflich entgegen. Falls es ihr merkwürdig vorkam, ließ sie es sich nicht anmerken. Meine Armbanduhr behielt ich an, den Verlust konnte ich notfalls verschmerzen.
Mit dem Stadtplan bewaffnet, marschierte ich los. Als ich aus dem Hotel kam, hielt ich mich rechts, dann sofort wieder links, anschließend ein Stück geradeaus, und schon war ich auf der Uferstraße, die von netten Cafés und einer Reihe von Bäumen gesäumt war. Es war frisch und windig, aber nicht kalt. Die Brücke war auch bei Nacht nicht schwer zu finden. Es ging sogar besonders schnell, weil ich einen Zahn zulegte, aus Sorge, der komische Typ könnte noch irgendwo herumlungern.
Ich lief ein Stück die Seine entlang, und gleich die nächste Brücke war der Pont au Change. Keine Ahnung, was ich mir vorgestellt hatte – vielleicht, dass es irgendwie verwunschener oder älter aussah. Aber es war nur eine ganz normale Brücke – mehrspurig befahrbar, mit breiten Fußgängerwegen auf beiden Seiten und auch sonst ohne hervorstechende Merkmale. Hübsch fand ich bloß die altertümlichen Laternen. Drüben am anderen Ufer lag die Île de la Cité – jedenfalls sagte das der Stadtplan –, eine lang gestreckte Insel im Fluss mit vielen historischen Gebäuden, unter anderem Notre-Dame.
Auf der Brücke waren Passanten unterwegs. Vor mir schlenderte händchenhaltend ein verliebtes Pärchen. Als ich die beiden überholte, lächelten sie mich an. Das Glück umgab sie wie eine Wolke, es versetzte mir einen Stich, denn bei dem Anblick musste ich wieder an Sebastiano denken. Ungefähr in der Mitte der Brücke hockte ein Penner auf einem Stück Pappe. Er hatte eine Schnapsflasche in der Hand und nahm gerade einen kräftigen Schluck, als ich vorbeikam. Gleichzeitig streckte er mir mit der anderen Hand einen umgedrehten Hut entgegen, in dem ein paar Münzen lagen. Ich blieb stehen und kramte in meinen Taschen. In meiner Jacke fand ich noch zwei Euro Wechselgeld von der Taxifahrt. Ich warf sie in den Hut. Mitnehmen konnte ich sowieso nichts.
Ich sah auf die Uhr und wurde immer unruhiger, obwohl ich zu früh war. Die Ungewissheit war das Schlimmste. Wenn ich nur schon wüsste, was mit Sebastiano passiert war!
Der Penner rülpste geräuschvoll und bot mir einen Schluck aus seiner Flasche an, was ich dankend ablehnte, woraufhin er es sich auf der Pappe etwas bequemer machte und laut schnarchend einschlief. Ich ging ein paar Schritte weiter und blickte über das Geländer zum Fluss hinab, der träge und dunkel unter mir dahinfloss. Tief in
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