Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
Anna Berg. Anna, darf ich dir Mister Collister und seine Enkelin Mary aus New York vorstellen?«
»Henry«, sagte Mister Collister. »Bitte einfach nur Henry! Freut mich sehr, Sie kennenzulernen!« Er gab mir die Hand und lächelte mich freundlich an. Unter seinen buschigen weißen Brauen leuchteten unternehmungslustige Augen. Sein Gesicht war von tiefen Falten zerfurcht, und die Hand, mit der er den Stock hielt, zitterte ein bisschen, aber er schien sich unbändig auf die Führung zu freuen. Seine Enkelin Mary war weniger gut drauf, sie sah aus, als fühlte sie sich gründlich fehl am Platze. Ich tippte darauf, dass sie ihrem Opa einen Gefallen tun wollte, indem sie ihn zu dieser Führung begleitete. Wenn sie gewusst hätte, was gleich passieren würde, wäre sie schreiend davongerannt.
»Stimmt was nicht, Miss Berg?«, fragte mich Mister Collister besorgt. Er sprach ein gepflegtes Englisch, das eher britisch als amerikanisch klang. »Sie sehen irgendwie … erschrocken aus.«
»Nein«, log ich. »Es ist alles in Ordnung. Und nennen Sie mich doch bitte Anna.«
»Nur wenn Sie mich Henry nennen.«
»Und mich Mary«, sagte Mary. Ich schätzte sie auf Anfang zwanzig. Wenn sie lächelte, war sie noch hübscher. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung, was ihr bevorstand. Gaston hatte Mary und Henry flapsig Touristen genannt – in Venedig nannten die Zeitwächter solche Leute Unwissende . Die Unwissenden wurden in ein früheres Jahrhundert gebracht und blieben dort – ohne dass es ihnen irgendwie komisch vorkam. Das lag daran, dass sie in der Vergangenheit ein komplettes Leben vorfanden und sich einbildeten, schon immer dort gewesen zu sein. Es war alles da, was sie dafür brauchten – ein Zuhause, Verwandte, Freunde, Dienerschaft. Die vollendete Illusion – und gleichzeitig absolut real. Dazu gehörte auch, dass sie vollständig aus der Gegenwart verschwanden. Nicht nur einfach als Personen, sondern ganz und gar, auch in Form der Erinnerungen, die andere von ihnen hatten. Es war, als hätte es sie nie gegeben. Gerade das fand ich besonders schlimm. Es schnürte mir jedes Mal die Kehle zu, wenn ich nur daran dachte. Ein Mensch, den andere geliebt hatten, war plötzlich weg, und die Zurückgebliebenen merkten es nicht mal. Denn für sie hatte es diesen Menschen nie gegeben. Er war schlicht aus der Zeit gelöscht und woanders wieder eingefügt worden.
Natürlich passierte das nicht aus irgendeiner sinnlosen Schikane heraus, sondern weil diese Menschen in der Vergangenheit wertvolle, zukunftsweisende Aufgaben erfüllten.
Vor einem halben Jahr hatten Sebastiano und ich beispielsweise einen jungen Physiker ins sechzehnte Jahrhundert gebracht. Schon in wenigen Jahren würde er die Herstellung nautischer Instrumente revolutionieren, die Schifffahrt würde dank seiner Entdeckungen rasante Fortschritte machen.
Solche Reisebegleitungen gehörten zum Job der Zeitwächter, aber ich fand sie schrecklich. Sebastiano betrachtete diese Einsätze längst als Routine, er hatte es schon oft gemacht, doch ich würde mich nie daran gewöhnen.
Der Physiker hatte eine Frau und eine kleine Tochter gehabt, und beide waren mitgegangen, obwohl ihre einzige Aufgabe darin bestand, ihn glücklich zu machen und für ihn da zu sein. Auf der einen Seite freute es mich für ihn, auf der anderen Seite überkam mich Mitleid, wenn ich mir ausmalte, was sie alles bei dem Übergang verloren hatten. Eltern, Freunde – ihr gesamtes Leben, alle Erinnerungen. Das kleine Mädchen würde nie eine Barbie bekommen und nie ins Kino gehen. Ich hatte hinterher stundenlang geheult. Das war mein letzter Einsatz dieser Art gewesen. Sebastiano hatte seither noch ein paar solcher Begleitungen durchgeführt, aber ich war nicht mehr mitgekommen.
Daran musste ich jetzt denken, als ich Henry Collister und seine Enkelin Mary vor mir stehen sah. Welches Leben wohl in der Vergangenheit auf die beiden wartete? Einer von beiden – vermutlich Mary, sie war ja noch jung – würde etwas Wichtiges vollbringen. Aber würde sie dafür wirklich das Leben, das sie hier hatte, aufgeben wollen? Wohl kaum. Am liebsten hätte ich sie gewarnt, doch ich bekam kein Wort heraus, und daran war nicht etwa die Sperre schuld, sondern bloß meine Vernunft. Niemand konnte sagen, was passieren würde, wenn ich mich einmischte. Vielleicht war Mary die künftige Mutter eines Mannes, der – nur mal als Beispiel – ein Heilmittel gegen die Pocken oder etwas ähnlich Durchschlagendes erfinden
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