Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
Panisch sah ich mich um. Jeden Moment konnte irgendwas passieren!
Sebastiano ließ mich los. »Ich muss zum Kardinal.«
»Nein«, sagte ich sofort. »Geh nicht! Bleib hier!«
»Ich bin sein Leibgardist und achte auf ihn, wie immer, wenn er auf Gesellschaften erscheint. Aber er wird nicht lange bleiben. Nur bis … bis es vorbei ist.« Er warf mir einen bittenden Blick zu. »Anna … es geht nicht anders. Sobald ich zurück bin, fangen wir zwei ganz von vorn an und vergessen das alles hier einfach.«
Lähmende Angst erfüllte mich. Ich hielt ihn fest. »Du darfst nicht gehen!« Kurz überlegte ich, ihm einfach meine Maske in die Tasche zu stecken und ihn mitsamt dem Ding nach Hause zu wünschen, doch die Furcht vor etwaigen unberechenbaren Folgen hielt mich davon ab.
Im nächsten Augenblick waren all diese Gedanken wie weggefegt. Eine silberne Augenklappe tauchte über Sebastianos Schulter auf.
»Es ist so weit«, sagte José. Er legte Sebastiano die Hand in den Nacken und hielt ihn fest. Sebastiano fuhr zusammen und stand dann völlig starr, die Augen seltsam blicklos und halb geschlossen. Ich sah, wie seine Lider zuckten und die Augäpfel sich darunter hin und her bewegten, als würde er in wachem Zustand träumen. Das Ganze dauerte höchstens ein paar Sekunden, doch mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Als Sebastiano anschließend die Augen wieder aufschlug, war sein Blick klar. Er sah mich an, und ich wusste, dass er sein Gedächtnis zurückhatte.
José hatte sich dicht zu ihm gebeugt und murmelte ihm ins Ohr. Sebastiano stand weiterhin reglos da. Er machte einen etwas orientierungslosen Eindruck, wie jemand, der gerade aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht war. Aber auch dieser Ausdruck verschwand und machte eiserner Entschlossenheit Platz. Sebastiano tat einen großen Schritt auf mich zu und riss mich in seine Arme. Es folgte ein langer, leidenschaftlicher Kuss, von dem mir so heiß wurde, dass es mir fast die Sohlen von den Seidenschuhen brannte.
»Das war dafür, dass ich so ein Idiot war.«
Ich strahlte ihn atemlos an. »Wenn das eine Entschuldigung sein sollte, betrachte ich es als erste Rate. Über die restliche Tilgung können wir später verhandeln.« Mein Herz klopfte heftig, ich war so glücklich, dass ich für einen Moment sogar die bedrohliche Situation vergaß.
»Junge, es wird Zeit«, sagte José ernst. Unversehens erinnerte ich mich daran, was er mir erzählt hatte – dass Sebastiano auf diesem Ball jemandem das Leben retten musste. Das Jucken in meinem Nacken hatte sich zu einem unerträglichen Brennen gesteigert. Was immer geschehen würde – es passierte genau jetzt.
»Nein«, sagte ich hilflos. Doch ich konnte es nicht verhindern, alles lief in quälender Unausweichlichkeit direkt vor meinen Augen ab, wie ein Film in Zeitlupe.
Die Reihen der Besucher hatten sich gelichtet, und die Leute hatten sich nach der offiziellen Begrüßung wieder im Saal verteilt und Gruppen gebildet, sodass ich freie Sicht auf das Podest hatte.
Der König hatte sich der Königin zugewandt, und ich begriff, dass er nicht bis zur Eröffnung des Banketts warten wollte. Er streckte beide Hände aus und griff nach ihrem Schleier. Nur noch eine einzige kurze Bewegung, und er würde ihn hochschlagen und damit ihr verbotenes Geheimnis offenbaren.
Der Kardinal stand dicht neben den beiden und beobachtete alles mit unverhohlener Genugtuung.
Ein Aufschrei ertönte, und gleich darauf noch einer. Aus der gegenüberliegenden Ecke des Saals kam ein Mann und ging mit ausgestreckter Pistole auf das Podest zu. Die Leute wichen wie Wasser rechts und links vor ihm zur Seite.
Sebastiano war bereits losgestürmt. Er war viel schneller als der Mann mit der Pistole, doch sein Weg zum Podest war auch fast doppelt so weit. Er rannte nicht nur, sondern sprintete. Ein paarmal musste er wegen der Leute, die ihm im Weg standen, im Zickzack laufen, und einmal rannte er fast einen Diener über den Haufen, der gerade noch mit einem vollen Getränketablett ausweichen konnte.
Der Mann mit der Pistole ging schneller, er näherte sich unaufhaltsam dem Podest. Wie betäubt erkannte ich, dass es Opa Henri war. Aber plötzlich verschob sich meine Wahrnehmung, so wie bei einem Vexierbild. Der Mann sah aus wie Opa Henri, er hatte sein weißes Haar und trug auch noch die blaue Samtmaske. Doch er hinkte nicht, sondern bewegte sich schnell und zielsicher.
Und dann wurde mir blitzartig alles klar. Der liebe, alte, etwas tüdelige Opa Henri, den
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