Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
ich als ebenso freundlichen Henry Collister kennengelernt hatte – in Wahrheit war er weder der eine noch der andere. Das waren beides nur raffinierte Verkleidungen gewesen, mit denen er mich mühelos hatte täuschen können.
Er war der Zeitreisende, den ich vor dem Britannique gesehen hatte.
Er war der maskierte Fremde, der tags darauf auf dem Marktplatz versucht hatte, Richelieu zu erschießen.
Und er war einer der Alten. Er hatte das Portal auf der Brücke geöffnet, nicht etwa der Clochard. Der war wirklich bloß ein Penner, der zufällig da herumsaß und als Tarnung hatte herhalten müssen. Kein Wunder, dass er mir so authentisch vorgekommen war.
Ein Schuss knallte, und alle im Saal schrien durcheinander. Doch niemand fiel getroffen zu Boden, Henri hatte vorbeigeschossen. Trotzdem ging er geradewegs weiter auf das Podest zu, von dem er nur noch wenige Meter entfernt war. Von Pulverdampf umnebelt, hatte er eine zweite Pistole gezogen.
Sebastiano hatte Boden gutgemacht und war fast dort, ihm fehlten nur noch ein paar Schritte. Dennoch hielt er nicht direkt auf den Attentäter zu, sondern schlug einen Haken, dicht am Podest vorbei, in die Richtung, wo die Königin stand. Für eine Millisekunde sah ich etwas Funkelndes in seiner Hand, dann rannte er weiter.
Henri blieb stehen, nahm die Pistole in beide Hände und zielte sorgfältig auf Richelieu. Im selben Moment, als der Schuss krachte, warf Sebastiano sich aus vollem Lauf mit einem gewaltigen Hechtsprung vor den Kardinal.
»Nein!«, schrie ich. »Nein!« Ich rannte und rannte, der Weg durch den Saal schien sich in unendlicher Länge vor mir zu erstrecken. Um mich herum herrschte Getümmel und Geschrei, die Leute flohen nach allen Seiten. Gardisten kamen mit gezückten Waffen hereingestürzt und kreuzten meinen Weg. Henri war durch eine Seitentür geflohen.
»Haltet ihn!«, hörte ich jemanden brüllen. Dann, weiter entfernt: »Er ist auf der hinteren Treppe! Jemand muss ihm den Weg abschneiden!« Dann Triumphgeheul. »Wir haben ihn!«
Marie tauchte vor mir auf. Ihr Gesicht war weiß und verstört. Ich stieß sie weg und rannte weiter.
Gleich darauf war ich bei Sebastiano und fiel neben ihm auf die Knie. An seiner linken Schulter breitete sich ein Blutfleck aus, der rasch größer wurde und sein Wams durchtränkte. Schluchzend nahm ich meine Maske ab und beugte mich über ihn. »Sebastiano! Hörst du mich? Bleib bei mir! Bitte!«
»Ich habe nicht vor, irgendwohin zu gehen«, brachte er ächzend, aber ansonsten gut verständlich hervor.
»Lass mich mal«, sagte José. Er schob mich sanft weg und klappte Sebastianos Jackenaufschlag zur Seite, um die Wunde zu untersuchen. Ich schaute hastig woandershin, weil ich merkte, dass mir schwindlig wurde. Den Anblick von zu viel Blut hatte ich noch nie besonders gut vertragen.
Jemand zog mich hoch und stützte mich. Es war die Königin. Sie hatte ihren Schleier mitsamt der Maske abgelegt und schaute mich besorgt an.
»Atme erst mal durch!«, riet sie mir.
Ich tat es und versuchte krampfhaft, nicht umzufallen. Ein vorsichtiger Blick auf Sebastiano zeigte mir, dass José die Blutung mit einer Kompresse stillte, die jedoch bereits so vollgesogen war, dass sie sich grellrot verfärbt hatte. Mir wurde übel, ich musste mich an der Hand der Königin festklammern.
»Du armes Mädchen«, sagte sie. »Wie ist dein Name?«
Klar, wir durften uns ja nicht kennen. »Anna«, antwortete ich mit dünner Stimme. Dann stieß ich erleichtert die Luft aus. Die Kompresse war nicht rot von Sebastianos Blut, sondern von allein – es war der Hut des Kardinals.
José schaute beruhigend zu mir hoch. »Keine Sorge, er wird wieder.«
Die Königin lächelte. »Wie schön.« Ihre Hand lag auf meiner Schulter und drückte sie leicht. Ihre Lippen formten unhörbar ein Wort, das nur ich sah. Danke . Den Rest las ich in ihren Augen.
Auf ihrem makellosen Dekolleté funkelte und blitzte das Diamantcollier. Niemand konnte es übersehen, auch nicht der König. Der starrte abwechselnd in den Ausschnitt seiner Frau und zum Kardinal und brachte dabei das Kunststück fertig, gleichzeitig erleichtert und ärgerlich auszusehen. Ganz offensichtlich war er froh, dass sich die Anschuldigungen Richelieus als haltlos herausgestellt hatten. Aber er war auch sichtlich sauer – auf den Kardinal. Die Botschaft an seinen obersten Staatsmann war unmissverständlich: Komm mir nie mehr mit so was, Freundchen!
Ich kniete mich wieder neben Sebastiano und nahm
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