Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
Ich schätzte ihn auf Anfang zwanzig.
»Mademoiselle!« Er verneigte sich höflich vor mir. »Ich bin Philippe. Der Bote aus dieser Zeit.«
Ich nickte ihm zu. »Mein Name ist Anna.« Dann wandte ich mich an Gaston. »Ich bin wohl mal wieder als Letzte aufgewacht. Was ist mit Henry und Mary?«
»Schon eingekleidet und unterwegs zu ihrem neuen Zuhause. Alles bestens.«
»Oh. Das ging ja schnell.« In meinem Hals steckte plötzlich ein Kloß. »Werden sie es gut haben?«
»Fabelhaft«, versicherte Gaston mir. »Nur vom Feinsten.«
»Was für ein Datum haben wir?« Es kam mir ziemlich warm vor, obwohl tiefste Nacht herrschte.
»Hm, auf den Tag genau weiß ich es nicht. Philippe?«
»Den achtundzwanzigsten Juni sechzehnhundertfünfundzwanzig«, sagte Philippe.
»Oh«, sagte ich. »Sommer.« Das war gut, dann musste ich wenigstens nicht frieren. Die Heiztechnik war in der Vergangenheit nicht nur extrem rückständig, sondern teilweise überhaupt nicht vorhanden.
Gaston machte eine ungeduldige Handbewegung in meine Richtung. »Jetzt zieh dich an, damit wir von hier wegkommen. Philippe, gib ihr das Zeug.«
Philippe reichte mir ein Kleiderbündel und drehte sich höflich um, damit ich mich unbeobachtet anziehen konnte. Gaston wandte mir ebenfalls den Rücken zu und wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen, während ich hastig die Sachen inspizierte, die Philippe mir gegeben hatte. Ein Unterkleid, das wie ein vorsintflutliches Nachthemd aus einem Wilhelm-Busch-Bilderbuch aussah, und ein viereckig geschnittenes Gewand mit dem Charme eines alten Kartoffelsacks. Sogar Aschenputtel hätte sich geweigert, das zu tragen. Allerdings konnte ich wohl kaum besondere Ansprüche stellen – viel wichtiger war, dass ich schnell und ohne fremde Hilfe in die Sachen kam. Um ein richtig schönes Kleid mit allem Drum und Dran anzuziehen, hätte ich in dieser Epoche die Hilfe einer ausgebildeten Kammerzofe gebraucht. Doch wenigstens schien alles sauber zu sein, auch wenn sich das Obergewand anfühlte, als sei es höllisch kratzig.
»Wo sind die Schuhe?«, fragte ich, während ich das Laken fallen ließ und in das lange Hemd schlüpfte. »Ihr könnt euch jetzt umdrehen.«
»Die Schuhe habe ich vergessen«, sagte Philippe erschrocken.
»Das macht nichts«, meinte Gaston. »Cécile kann ihr welche geben.«
Ich streifte mir das sackartige Obergewand über – es war höllisch kratzig –, band mir den dazugehörigen Strick als Gürtel um die Taille und versuchte, gelassen zu wirken.
»Ich kann ja deine Schuhe nehmen«, sagte ich zu Gaston.
Die sahen ziemlich edel aus, genau wie seine übrige Aufmachung. Anscheinend hatte er auch in der Vergangenheit ein Budget. Für ihn hatte der Bote nur ausgesucht feine Sachen bereitgehalten: Seidenstrümpfe, Wams und Kniehosen aus Samt, Spitzenärmel und dazu ein flotter Federhut – wie ein Prinz aus einem Shakespeare-Stück. Philippe war deutlich schlichter gekleidet. Sein Hemd hatte keine Spitzen, und seine Strümpfe waren aus Baumwolle, ebenso wie Wams und Hose, auch wenn alles sehr gut verarbeitet war. Er hatte ein schmales, ernstes Gesicht. Den Hut hatte er abgenommen, als ich vorhin aufgetaucht war. Sein blondes Haar war im Nacken zu einem Zopf gebunden.
»Ihr könnt meine Schuhe haben, Mademoiselle!«, bot er mir an. »Es ist allein meine Schuld, ich war nicht richtig vorbereitet.«
»Philippe ist erst seit zwei Übergängen unser Bote«, warf Gaston ein.
Philippe machte einen leicht verzweifelten Eindruck. »Ich bin untröstlich über mein Versäumnis.«
»Und Eure Schuhe sind sicher doppelt so groß wie meine«, sagte ich. »Die von Gaston würden mir schon eher passen, aber ich versuche es erst mal ohne. Wer ist Cécile?«
»Die junge Dame, mit der Ihr heute Nacht das Zimmer teilt. Dort gehen wir jetzt hin.«
»Ich möchte zu Sebastiano«, widersprach ich. »Und zwar sofort.«
Gaston schüttelte den Kopf. »Das geht erst morgen früh.«
»Aber …«
»Glaub es mir einfach«, schnitt er mir das Wort ab. »Wenn wir ihn um diese Uhrzeit aus dem Bett werfen, würde es nur unnötiges Aufsehen erregen. Und wir müssen jegliches Aufsehen vermeiden, das weißt du so gut wie ich.«
Ich fügte mich widerwillig und trottete hinter den beiden her. Der Weg führte durch dunkle Gassen, vorbei an mehrstöckigen Häuserreihen.
»Wo sind wir hier?«, fragte ich.
»Auf der Île de la Cité«, antwortete Gaston.
Da ich mich dort sowieso nicht auskannte, nützte mir diese Information wenig.
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