Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
(der Translator machte aus dem Klavier ein Clavichord). Fahrradfahren und Judo ließ ich lieber weg. Die Frage nach einem Verehrer verneinte ich kurzerhand. Um sie von mir abzulenken, ging ich schließlich zu Gegenfragen über. Daraufhin erzählte Cécile mir aus ihrem Leben, das ziemlich ungewöhnlich verlaufen war – wobei ich rückblickend manchmal denke, dass ein Teil davon vielleicht bloß frei erfunden war.
Sie war die Tochter eines Pariser Hoflehrers (was ihre Bildung erklärte) und einer dänischen Weinhändlerin (was ihr nordisches Aussehen und ihr Faible für Rotwein erklärte). Außerdem war sie die Witwe eines Jongleurs und Seiltänzers – was wiederum erklärte, wieso sie einen Hang zur Bühne hatte.
Ihr Mann war vor drei Jahren bei einem Sturz vom Seil gestorben und hatte ihr leider nichts hinterlassen außer seinen Jonglierbällen. Cécile sprang auf und suchte in einer Kiste herum, bis sie sie gefunden hatte, aber ihr Versuch, mir ihre Jonglierkünste vorzuführen, scheiterte an der niedrigen Decke. Die Bälle flogen in alle Richtungen, ich bekam ein paar davon ab und hielt mir schützend ein Kissen vors Gesicht. Wir mussten beide kichern und entschieden dann einstimmig, dass es Zeit zum Schlafen war. Ich brachte gerade noch die Kraft auf, ihr Klo zu benutzen – ein Nachtstuhl mit Deckeltopf hinter dem Paravent.
»Warte«, sagte sie. »Es ist noch was drin. Ich schütte es rasch aus.« Sie klappte den Fensterladen auf und leerte den Topf mit Schwung auf die Straße, bevor sie ihn in den Stuhl zurückstellte. So viel zu den Pfützen, in die ich auf dem Weg hierher diverse Male getreten war. Während ich hinter dem Wandschirm mein kleines Geschäft erledigte, machte sie das Fenster wieder zu und kroch ins Bett. Ich streckte mich auf dem Boden aus, der mir nach all dem Wein nur noch halb so hart vorkam wie zu Anfang.
»Gute Nacht, Anna«, hörte ich Cécile murmeln. »Schlaf schön.«
»Du auch«, murmelte ich zurück, während ich bereits wegdämmerte.
Die Kerzen waren erloschen. Draußen zog schon die Morgendämmerung herauf, in ein paar Stunden würde Philippe auf der Matte stehen, dann musste ich fit sein. Und bald würde ich Sebastiano wiedersehen … endlich. Sein Bild begleitete mich in meine Träume.
Tag eins
A
ls ich aufwachte, war mein Kopf ungefähr einen Kilometer dick, und meine Zunge fühlte sich an wie das halbtote pelzige Ding, auf das ich vergangene Nacht getreten war. Stöhnend drehte ich den Kopf zur Seite und versuchte, dem stechenden Licht auszuweichen, das sich in meinen rechten Augapfel bohrte. Es stammte von einem Sonnenstrahl, der sich den Weg durch einen Schlitz im Fensterladen gebahnt hatte und wie ein staubiges Schwert das Zimmer zerteilte. Jemand hämmerte von innen gegen meine Schädeldecke und brachte damit die ganze Welt zum Dröhnen. Dann merkte ich, dass das Hämmern auch von draußen kam, genauer, vom Fensterladen her.
»Cécile? Anna? Schlaft ihr noch?«
Das war Philippe! Sofort war ich hellwach und sprang auf. Das heißt, ich wollte aufspringen, aber in Wahrheit war es ein mühevolles, langsames, von Ächzen begleitetes Hochstemmen, behindert durch das Laken, das sich um meine Beine gewickelt hatte wie eine überdimensionale Schlange. Die Kissen lagen überall um mich herum verteilt auf dem Boden, ich hatte auf den nackten Dielen geschlafen. Mein Körper fühlte sich an wie nach einem Sturz aus großer Höhe (zumindest stellte ich mir vor, dass es sich so anfühlen musste), ich konnte kaum aufrecht stehen vor Schmerzen. Das Schlimmste war, ich wusste nicht, was mehr wehtat, mein Kopf oder der ganze Rest halsabwärts.
»Cécile! Anna!«, kam es ungeduldig von draußen.
»Ich bin wach«, krächzte ich in Richtung Fenster.
»Es hat eben neun geschlagen!«, rief Philippe zurück.
Ich hatte verschlafen! Entsetzt blickte ich im Zimmer umher. Am liebsten wäre ich sofort zu Philippe hinausgerannt, damit er mich gleich zu Gaston bringen konnte, denn der wusste ja als Einziger, wo Sebastiano steckte. Doch in dem Zustand konnte ich mich unmöglich unter Leute wagen.
»Ich komme sofort!«, rief ich.
Schuhe. Ich brauchte unbedingt Schuhe!
»Cécile, kannst du mir ein paar Schuhe borgen?«
Vom Bett her war ein Stöhnen zu hören. Ein weißblonder Wuschelkopf bewegte sich kurz und lag dann wieder still. Leises Schnarchen entstieg den Kissen. Cécile würde ganz bestimmt nicht so schnell aufstehen. Der Einfachheit halber wertete ich das Stöhnen als Ja und die
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