Zeitenzauber - Die goldene Brücke: Band 2 (German Edition)
Witwe. Ihrem verblichenen Gatten verdankte sie nicht nur den Titel einer Herzogin und ein gigantisches Vermögen, sondern auch das Stadtpalais und ein standesgemäßes Château auf dem Lande. Henry, der praktischerweise in dieser Zeit Henri hieß, war ihr Großvater mütterlicherseits und zugleich ihr einziger noch lebender Verwandter. Ihre Eltern waren schon so lange tot, dass sie sich nicht an sie erinnerte. Über ihren Mann erfuhr ich nicht viel, außer dass er schon ziemlich alt und die meiste Zeit auf Reisen gewesen war. An der Wand über dem Büfett hing ein lebensgroßes Porträt von ihm, das einen grauhaarigen, etwas vergrämt aussehenden Mittvierziger mit steifem Kragen zeigte.
»Das war der Herzog, Gott hab ihn selig«, sagte Marie. Besonders bedrückt hörte es sich nicht an. Anscheinend hatte sie seinen Tod, unabhängig davon, dass es nur ein imaginäres Ereignis war, sehr gut verkraftet.
Insgesamt kam mir Marie ausgeglichen und glücklich vor. Offenbar hatte sie es in ihrem Zweitleben wirklich gut getroffen und musste nichts entbehren, abgesehen natürlich von solchen unverzichtbaren kleinen Freuden des Alltags wie Facebook, iTunes und How I met your mother . Aber weil sie von der Existenz dieser Dinge gar nichts ahnte, war es im Grunde auch kein Verzicht. Außerdem konnte sie von silbernen Tellern essen (keine Redensart, sie waren wirklich silbern!) und sich die angesagtesten Outfits der Epoche leisten. Und sie war nicht allein, denn sie hatte ihren lieben Opa bei sich, der jedes ihrer Worte mit seinem verschmitzten, freundlichen Lächeln verfolgte und ab und zu einen wohlwollenden Kommentar einwarf. Unter anderem verteilte er reihenweise Komplimente, auch an mich.
»Du bist ein wohlerzogenes Kind«, sagte er, während ich mir gerade zum Nachtisch eine Art Pfannkuchen mit Himbeeren und Sahne einverleibte. »Wie manierlich du mit Messer und Gabel umgehst! Du benutzt beides mit bemerkenswertem Geschick.«
Verdutzt betrachtete ich meine Hände. Links die Gabel, rechts das Messer, so, wie ich es gelernt hatte. Dann schaute ich zu Marie und Henri – sie hielten ihr Besteck genauso. Also eigentlich nichts Besonderes. Aber dann fiel mir wieder ein, dass in diesem Jahrhundert noch längst nicht alle Leute zum Essen eine Gabel benutzten, die war erst im Kommen. Und mit Messer und Gabel gleichzeitig aß vermutlich kaum jemand. Außer mir natürlich. Und Marie und Henri. Manche lebenslangen Gewohnheiten legte man eben trotz ausgelöschter Erinnerung nicht ab.
»Ich habe übrigens für die Soiree ein Streichquartett bestellt«, sagte Marie. Sie wandte sich an mich. »Es wird dir gefallen. Cécile hat mir erzählt, dass du Musik liebst.«
»Ich selber würde aber lieber nichts vorspielen«, sagte ich schnell.
»Oh, aber das musst du nicht, wenn du es nicht möchtest«, versicherte Marie.
»Wer kommt denn alles heute Abend?«, fragte ich.
»Das weiß man vorher nie so genau. Ich erzähle diesem oder jenem davon, dass ich eine kleine Gesellschaft gebe, und die Betreffenden erzählen es weiter, und dann kommen alle, die Zeit und Lust haben. Es ist immer ganz zwanglos.«
Aha. Dann konnte ich wohl mit Sicherheit davon ausgehen, dass auch Sebastiano aufkreuzen würde, denn er wartete ja bloß auf eine passende Gelegenheit. Mein Herz schlug vor Aufregung schneller. Nur noch wenige Stunden, dann würde ich ihn wiedersehen!
Später am Nachmittag brachte einer der Hausdiener meinen Kleidersack, doch der Inhalt fand vor Maries kritischen Augen keine Gnade.
»In diesen Sachen kannst du nicht herumlaufen. Ich werde dich erst einmal richtig einkleiden!«
Und das tat sie dann auch. Sie schleppte mich mit in ihr Schlafzimmer, ein pompöses Gemach mit Himmelbett und weiß-golden bemalten Möbeln. Daran angrenzend gab es eine Art begehbaren Kleiderschrank von der Größe einer Doppelgarage, der nur so überquoll von edlen Klamotten. Marie schleppte einen Armvoll Kleider heraus und behauptete, die würde sie sowieso nicht mehr anziehen. Sie breitete die Gewänder auf ihrem Bett aus und bestand darauf, dass ich alles sofort anprobierte, was ich zuerst widerwillig, dann mit wachsender Begeisterung tat. Obenherum saß alles hervorragend, nur die Säume schleiften auf dem Boden. Doch Marie meinte, das sei überhaupt kein Problem.
»Im Parterre gibt es eine Nähstube mit sehr guten Schneiderinnen, die erledigen das in Windeseile. Ich lasse gleich jemanden zum Abstecken heraufkommen.«
Während ich mich vor ihrem
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