Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
Schminke anmalten, hellte sich unsere Stimmung deutlich auf. Wir erzählten uns alle möglichen lustigen kleinen Geschichten über unsere ersten Schminkversuche, wobei der intergalaktische Translator von mir verwendete Worte wie Mascara , Highlighter und Rouge in Khol , Bleiweiß und Wangenrot verwandelte, was mich zum Kichern brachte und mir half, nicht mehr an meine Sorgen zu denken. Nicht an die Malipieros und auch nicht daran, dass ich ein bedeutsames Ereignis verhindern musste, ohne zu wissen, welches.
Endlich war es so weit. Es läutete zur Komplet, 13 für uns das Zeichen, allmählich aufzubrechen. Bevor wir uns auf den Weg machten, holte Clarissa noch einen kleinen Glasflakon aus ihrem Beutel und betupfte uns allen die Innenseiten der Handgelenke mit Parfümöl. Betäubender Duft breitete sich aus.
»Himmlisch!« Dorotea schnupperte. »Was ist das?«
»Das ist meine eigene Kreation«, sagte Clarissa. »Eine Duftmischung aus Oleander und Tuberosen mit einem Hauch Nelke. Vielleicht kannst du dir einen kleinen Vorrat mitnehmen, wenn du nach Neapel zurückkehrst.«
Unter dem Tuch, das Dorotea über den Käfig gehängt hatte, krächzte Polidoro protestierend. »Ich will nicht zurück nach Neapel.«
»Schlaf weiter, mein treuer Freund«, sagte Dorotea. »Noch sind wir in Venedig und bis wir diese Stadt verlassen, kann noch viel geschehen.«
Meine Befürchtung, man werde uns vielleicht nicht einlassen, löste sich rasch in Luft auf. Als wir vor dem gewaltigen Palazzo des Patriziers Trevisan aus der Mietgondel stiegen, wurden wir sofort von zwei betressten Dienern in Empfang genommen, denen Dorotea hochnäsig erklärte, sie sei die Contessa Dorotea und auf Einladung von Alvise Malipiero hier und die beiden Mädchen in ihrer Begleitung seien ihre Hofdamen.
Die Diener schluckten das ohne Widerrede und geleiteten uns zum Seiteneingang des Gebäudes. Dort standen weitere Diener bereit, die uns die Treppe hinauf in den ersten Stock führten, zum Piano Nobile , dem herrschaftlichen Obergeschoss mit dem großen Saal. Nur dass in diesem Fall der Saal nicht einfach nur groß war, sondern gigantisch. Überhaupt war hier alles eine Nummer größer als in Mariettas Palazzo. Schon der Portikus, der von der Treppe zum Portego führte, war gewaltig, ein hoher, von Stuck überladener Bogengang, in dem man seine Schritte auf dem spiegelblanken Terrazzoboden hallen hörte.
Dann öffnete sich der Blick in den großen Saal und ich dachte nur noch: Wow!
Der erste Eindruck war der von überbordender Pracht. An den Wänden brannten unzählige Kerzen in funkelnden Kristallkandelabern. Ihr Licht wurde in tausendfachen Reflexionen von Spiegeln zurückgeworfen, die mit ihren wuchtigen Goldrahmen aussahen, als wären sie für ein Königsschloss gemacht. Der Vergleich war nicht übertrieben. Mein Vater hatte mir erzählt, wie begütert manche der alten venezianischen Patrizierfamilien gewesen seien, buchstäblich so reich wie Könige.
Stimmengewirr schallte uns entgegen, aber in dem Raum waren weniger Menschen, als ich erwartet hatte. Genau genommen waren wir unter den ersten Besuchern, wie ich nach einem raschen Rundblick feststellte. Hier und da standen Grüppchen von Gästen und unterhielten sich, die Partystimmung war schon zu ahnen, aber definitiv noch weit vom Höhepunkt entfernt. In der gegenüberliegenden Ecke des Portego stimmten einige Musiker ihre Instrumente. Ich erkannte eine Flöte und eine Art Spinett sowie ein Ding, das wie eine missglückte Geige aussah, aber daneben gab es noch zwei oder drei weitere, die ich noch nie gesehen hatte.
»Wir sind viel zu früh«, zischte Clarissa mir zu. Gemeinsam mit Dorotea und mir war sie dicht beim Portikus stehen geblieben und blickte sich misstrauisch um.
»Dafür hatten wir aber Glück mit dem Reinkommen«, flüsterte ich zurück. »Es war eine gute Idee von Dorotea, uns als ihre Hofdamen auszugeben.«
»Nur bei Hofe hat man Hofdamen«, sagte Clarissa. »In Venedig gibt es das nicht.«
»Na wenn schon. Jedenfalls haben sie ihr geglaubt.«
»Sie haben ihr kein Wort geglaubt, sondern sie für das gehalten, was sie ist.«
»Eine Witwe?«, fragte ich verwirrt.
»Sieht so eine Witwe aus? Und wir wie zwei ehrbare Hofdamen?«
Sie deutete auf den Spiegel, der nur ein paar Schritte von uns entfernt an der Wand hing. Wir drei waren bestens darin zu sehen. Ich betrachtete uns und musste schlucken. Clarissa hatte recht. Dorotea sah nicht aus wie eine Witwe, schon gar nicht wie eine
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