Zeitenzauber - Völler, E: Zeitenzauber
trug und obendrein ohne Schleier unterwegs war. Immerhin hatte ich Doroteas gelbes Seidentuch dabei. Fest zog ich es um meine Schultern.
Beim Dogenpalast ließ ich den Gondoliere anlegen, händigte ihm ein paar Münzen aus und bat ihn zu warten.
Auf der Piazza San Marco herrschte reger Betrieb. Die Menschen drängten sich in dichten Trauben um die beiden hohen Säulen an der Piazzetta. Schaudernd sah ich, worauf sich ihr Interesse richtete. Zwischen den Säulen wurde soeben ein gefesselter Mann vorgeführt, grob zu Boden geschubst und mit dem Kopf voran auf einen Richtblock gezerrt. Dass er enthauptet werden sollte, begriff ich erst, als ich den Henker mit dem riesigen Richtschwert sah. Die umstehenden Leute schrien und lachten, als wäre die bevorstehende Hinrichtung ein erstklassiges Schauspiel. Manche hatten sogar Essen und Trinken mitgebracht, um sich die Wartezeit zu verkürzen.
Schockiert wandte ich mich ab und drängte mich an den Leuten vorbei. Rasch ging ich am Dogenpalast entlang, dann um die Basilika herum und durch die schmale Gasse in Richtung Maskenladen.
Ausdauernd hämmerte ich an die Tür, doch niemand machte mir auf. Den Weg hätte ich mir auch sparen können.
Als ich zum Kai zurückkam, war die Hinrichtung vorbei. Die Menschen begannen schon, sich zu zerstreuen. Ein paar Männer hievten die sterblichen Überreste des Delinquenten auf einen Karren, doch das bekam ich nur aus den Augenwinkeln mit, denn ich bemühte mich, in eine andere Richtung zu sehen. Es roch nach Blut und Tod. Mir drehte es den Magen um und fast wäre das Frühstücksbrot wieder hochgekommen.
Ich ließ mich von dem Gondoliere zu Mariettas Haus bringen, doch auch hier hatte ich Pech. José war nicht da und auch die Kurtisane war nicht im Haus. Ich beschrieb der Magd, die mir die Pforte geöffnet hatte, wohin sich der einäugige Alte begeben solle, sobald er wieder auftauchte. »Es muss aber sofort sein, denn für Sebastiano geht es um Leben und Tod«, beschwor ich sie. Ich wurde etwas konkreter, damit niemand auf die Idee kam, ich wolle bloß übertreiben. »Er hat hohes Fieber.«
Die Magd nickte beeindruckt und versprach, es der Herrin oder dem Spanier auszurichten.
Eilig bestieg ich wieder die Gondel und ließ mich zu der Anlegestelle bringen, die der Kräuterhandlung am nächsten lag. Auch hier gab ich dem Gondoliere etwas Geld und bat ihn zu warten. Das letzte Stück legte ich zu Fuß zurück. Auf dem Weg durch die Gassen folgten mir neugierige Blicke wegen meiner Aufmachung.
Matilda hob die Brauen fast bis zum Haaransatz, als ich den Laden betrat. »Du kommst spät«, sagte sie. »Wir hatten vereinbart, dass du zur Terz mit der Arbeit beginnst.«
Siedend heiß fiel mir ein, dass ich ja mit ihr ausgemacht hatte, täglich zum Helfen vorbeizukommen. Wie hatte mir das nur entfallen können!
Na ja, ich war beinahe umgebracht worden. Das war eine ganz gute Entschuldigung für meine Vergesslichkeit. Und ich musste mich um einen fieberkranken Zeitreisenden kümmern, von dessen Wohlbefinden es außerdem abhing, ob ich jemals wieder nach Hause käme. Wer da noch ans Ausfegen und Putzen denken konnte, musste einen Verstand aus rostfreiem Edelstahl haben. Meiner fühlte sich eher an wie verklumpte Watte.
»Wie bist du denn angezogen?«, fragte Matilda missbilligend. »Willst du etwa in diesem Zeug arbeiten?«
»Eigentlich wollte ich nur ein Fiebermittel holen«, sagte ich wahrheitsgemäß. Um dann mit einer Lüge fortzufahren: »Meine Zimmergenossin im Kloster ist erkrankt.« Rasch setzte ich noch eins drauf. »Ich habe die ganze Zeit bei ihr gewacht und darüber das Umziehen vergessen.«
»Und was wird aus der Arbeit?«
»Ich komme so schnell wieder, wie ich kann. Sobald ich ihr das Mittel verabreicht habe.« Auch das war eine Lüge. Oder zumindest nicht ganz die Wahrheit. Ich konnte nicht hier arbeiten, solange ich nicht wusste, was aus Sebastiano wurde. Er brauchte meine Hilfe dringender als Matilda oder Clarissa.
Clarissa erschien im Verkaufsraum. Von der strahlenden Erscheinung, die sie am Vorabend geboten hatte, war nichts mehr zu sehen. Ihr Haar war wie üblich zu einem strengen Zopf geflochten und über ihrem schlichten braunen Kleid trug sie denselben fleckigen Kittel, den sie immer bei der Arbeit in der Offizin anhatte.
Es kam mir vor, als wäre sie alles andere als begeistert, mich zu sehen.
Ich räusperte mich entschuldigend. »Ich weiß, ich bin zu spät, aber es … kam etwas dazwischen. Kann ich mit dir
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