Zeitgenossen - Kampf gegen die Sybarites (Bd. 2) (German Edition)
die sich verselbständigende Eskalation der Gewalt in unserer Wahlheimat mit eigenen Augen zu sehen. Dem besorgten Blick, den Maddy ihm zuwarf, begegnete Miguel mit einem beruhigenden Kopfschütteln, da er sich die Gewehrkugel mit einer unauffälligen Handbewegung schon selbst entfernt hatte und die Wunde sich bereits wieder zu schließen begann.
Es war in jenen Tagen recht praktisch für uns, dass wir nahezu unverwundbar waren, doch hätten wir uns vermutlich auch als Menschen auf die Straße gewagt, weil die massiven revolutionären Umwälzungen, die plötzlich stattfanden, uns ebenso faszinierten wie besorgten.
Bei einem weiteren Aufmarsch mit verbesserter Bewaffnung schaffte es die Meute letztlich, die Bastille zu stürmen und die Gefangenen zu befreien. Obwohl man dem Kommandanten der Bastille freies Geleit zugesichert hatte, wurde er schließlich von einem wütenden Küchenjungen mit dem Taschenmesser geköpft. Anschließend wurde sein Kopf ebenso wie der Kopf eines getöteten Wachsoldaten und der eines Adeligen, der dem Kommandanten zur Hilfe eilen wollte, von der Menschenmenge auf Lanzen gespießt und triumphierend durch die Straßen getragen.
Als ich neben mir einen kleinen Jungen erblickte, der zu Tode erschrocken auf die aufgespießten Köpfe starrte, nahm ich ihn rasch auf den Arm und drehte mich beiseite, damit ihm der Blick auf das Grauen versperrt wurde. Er sah mich mit großen, intensiv grünen Augen an und ich spürte, wie sich ein Kloß in meiner Kehle bildete.
Meistens versuchte ich, den näheren Kontakt zu Kindern zu vermeiden. Sie erinnerten mich zu sehr daran, dass ich selbst niemals welche haben konnte.
Brüsk wandte ich meinen Blick von dem kleinen Jungen ab und stutzte kurz. Irgendwo in der Menschenmasse meinte ich, Giles’ Gesicht erblickt zu haben. Es schien, als hätte er mich und das Kind nachdenklich betrachtet. Doch dann war er wieder verschwunden und ich war überzeugt davon, mir das Ganze nur eingebildet zu haben.
Ich wandte mich wieder dem kleinen Jungen auf meinem Arm zu, der mich immer noch aufmerksam ansah. Die Tränen des Entsetzens, die er vergossen hatte, hatten schmale Spuren durch den Schmutz auf seinen runden Bäckchen gezogen. Der Kloß in meiner Kehle schien zu wachsen und daher fragte ich den Kleinen rasch, wo seine Mutter sei. Er zeigte auf eine nicht weit von uns stehende Frau in Wäscherinnentracht, die mit glühender Miene dem tobenden Mob applaudierte. Mit einer schnellen Bewegung war ich bei der Frau und zog sie in eine Häusernische. Sie hatte ein recht einfältiges Gesicht und sah mich verdutzt an.
»Ist dies dein Junge?«, fragte ich sie verärgert. Sie schaute auf den Kleinen und nickte.
»Dann sieh zu, dass du ihn nach Hause schaffst! Dies ist kein geeigneter Ort für ein kleines Kind!«, blaffte ich sie an und übergab ihr das Kind.
Sie nickte erneut eifrig und eilte mit dem Kind auf dem Arm davon. Nachdenklich sah ich ihr hinterher und stellte fest, dass der Kleine mich über ihre Schulter hinweg immer noch ansah, bis die beiden schließlich in der Menge verschwunden waren.
Am Abend besprachen Maddy, Miguel und ich bei uns zu Hause die jüngsten Ereignisse. Diese plötzliche Eskalation von Gewalt im Volk hatte uns alle überrascht und schockiert. Wie sich herausstellen sollte, war dies erst der Anfang. Die Unruhen setzten sich auch in den nächsten Tagen fort und griffen auch auf andere größere Städte Frankreichs über. Auch auf dem Land stürmten bewaffnete Bauern Schlösser und Klöster. Gerade unter der Landbevölkerung hielten sich auch in den folgenden Wochen das Misstrauen und die Angst aufrecht, dass der König oder der Adel möglicherweise zu einem militärischen Gegenschlag ausholen oder auch ausländische Nationen eine Invasion planen könnte.
Die Nationalversammlung begegnete dieser Angst, indem sie die Feudalrechte der Großgrundbesitzer und die Steuerprivilegien des Adels abschaffte und wenige Wochen später auch die Erklärung der Menschenrechte verabschiedete. Dennoch verursachten Louis XVI. verhaltene Reaktion auf diese Menschenrechtserklärung und der Umstand, dass er ein flandrisches Regiment zu sich nach Versailles beorderte, im Herbst erneute Unruhen.
Am 5. Oktober brachen mehrere Tausend Pariser Marktfrauen schließlich zu einem »Hungermarsch« nach Versailles auf, um vom König Getreide und Mehl zu verlangen. Darüber hinaus erzwangen sie gemeinsam mit Stadtbeauftragten und Nationalgardisten das Zugeständnis des
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