ZEITLOS - Band 3 (German Edition)
mittels Kopfstimme zu führen.
Sie saß in der Lotushaltung und richtete ihre Aufmerksamkeit auf das angenehme Kribbelgefühl, das der Talisman hinter ihrem Brustbein verursachte und projizierte dabei in die Köpfe der Runde das Bild einer übergroßen Schiffsschaukel, mit der sie gestern auf dem Berliner Jahrmarkt gefahren war. Das Wahnsinnsgefühl war ihr noch sehr lebhaft in Erinnerung.
Das mächtige Schwingen des Rumpfes brachte die Atmung der Teilnehmer augenblicklich in Gleichklang. Die Szene taugte wunderbar zur gemeinsamen Synchronisation. Beim hinteren Umkehrpunkt angekommen, erinnerte sich Nele ganz bewusst an den mächtigen Adrenalinschub hinter dem Brustbein, der sich auf der Schiffsschaukel beim Abschwung immer einstellte und übermittelte ihn an die Teilnehmer.
Der Talisman half ihr dabei, das gestern in Realität erlebte Gefühl um ein Vielfaches verstärkt weiterzugeben. Es war so grandios erregend, als würde sie nicht in einem sicheren Fahrgeschäft sitzen, sondern in eine tiefe dunkle Schlucht hinabstürzen.
Den Kehlen der Meditierenden entrang sich bei jedem erneuten Abschwung ein immer lauter werdendes entsetzt-begeistertes Aufschreien. Nele genoss die Führung. Das Lenken der Gruppe machte ihr großen Spaß, aber nun sollten die Teilnehmer ihre versprochene Überraschung erleben. Es ging los.
Der nächste Rückschwung kam zum Stillstand, senkrecht hing der imaginäre Schiffsrumpf für Sekundenbruchteile bewegungslos mit der Bugspitze nach unten zeigend in der Luft, da projizierte Nele das vorbereitete Bild: Plötzlich sah die Runde über den Bug in einen gigantischen Trichter, der erschreckend an ein langsam rotierendes Mahlwerk erinnerte, in das sie nun hineinstürzten ...
Das Letzte was Nele noch hörte, war das panische Schreien, das sich fünfundzwanzig entsetzten Kehlen entrang, dann war da kein Karussell mehr, auch kein rotierendes Mahlwerk - sie hingen plötzlich schwerelos in einer hellblauen Sphäre fest. Befreit von jeglicher Schwerkraft, schwebten die Teilnehmer auf ihren Isomatten wie auf fliegenden Teppichen.
Kein Laut war zu hören. Alle befanden sich in einem zeitverzögerten Ausnahmezustand. Nele sah in die Gesichter, die noch zum Aufschrei geöffneten Münder, und sie sah die weit aufgerissenen Augen, in denen sich Entsetzen und Erstaunen zugleich spiegelten. Alle schwebten senkrecht nach oben. Über sich nahmen sie sintafarbenes Licht wahr und freuten sich darauf, endlich auf die dortige Spielwiese zu gelangen. Wieso Spielwiese??
Fremde Gedanken und fremdes Wissen erfüllten ihre Hirne - die Fülle dieser Informationen war einfach überwältigend. Neles Staunen über die Klarheit und Kraft dieser erstmalig erlebten Mentalkraft wurde immer grenzenloser. Das leichte, vergnügliche Emporschweben verursachte ein Gefühl, als seien sie vom Wind durch die Lüfte getragene Pusteblumensamen, die einem magischen Sog folgten.
Ein Restteil von Neles kritischem Verstand warnte sie, dass das Experiment aus dem Ruder lief. Ihr Ego bekam Angst. Sie achtete auf die Stelle ihrer Haut, an der sich der Talisman befand. Dort saß das orgiastische Abstürzgefühl fest, wie dauerhaft eingefroren.
Sie versuchte instinktiv, mit einer Hand den Talisman auf ihrem vibrierenden Brustbein zu ergreifen. Quälend langsam nur kam ihre Hand Zentimeter für Zentimeter näher an den Quarz heran. Währenddessen hatte sie das Gefühl, als ob der gemeinsame Sog, der sie Richtung Spielwiese(?) zog, größer wurde und dadurch die empor strebende Schwebebewegung beschleunigte.
Das eingefrorene Absturzgefühl begann sich zu lösen, wich jetzt endgültig heller Panik - das Experiment lief schief ...! Endlich bekam sie den Quarz zu fassen und schrie unhörbar auf, denn er versengte ihr die Hand. Entsetzt riss sie sich die Kette vom Hals - die Sogbewegung nach oben hörte augenblicklich auf, die lichte Sphärenbläue löste sich auf.
Die jäh einsetzende Rückwärtsbewegung war so heftig, dass erneut alle schrieen. Diesmal jedoch war der Sturz nur kurz, dafür umso schmerzhafter: Sie landeten alle äußerst unsanft auf dem Gummiboden des Gymnastikraumes.
Der Raum sah aus wie ein Schlachtfeld, alles lag wild durcheinander gestreut. Die Teilnehmer rieben sich völlig verstört ihre schmerzenden Körperteile, eine junge Frau hörte nicht auf zu wimmern. Als Nele ihr zu Hilfe kam, sah sie, dass deren rechtes Bein merkwürdig verrenkt aussah.
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