Zeitoun (German Edition)
dass der Islam diese Bücher anerkannte, war für sie wie eine Erleuchtung. Die Tatsache, dass der Koran immer wieder anderen, verwandten Glaubensformen die Hand reichte, haute sie glatt um:
Wir glauben an Gott
und was Er zu uns niedersandte zu Abraham
und Ismael und Isaak und Jakob
und den Stämmen,
und was gegeben ward den Propheten
von ihrem Herrn.
Keinen Unterschied machen wir
zwischen einem von ihnen;
und wir sind Ihm ergeben.
Sie war frustriert, dass sie das alles nicht gewusst hatte, dass sie so blind gegenüber dem Glauben von einer Milliarde Menschen gewesen war. Wie war es nur möglich, so unwissend zu sein?
Und Mohammed. Ihr war so viel Falsches über Ihn erzählt worden. Sie hatte gedacht, Er wäre der eigentliche Gott des Islam, derjenige, den die Muslime anbeteten. Aber Er war bloß der Gesandte, der das Wort Gottes überbrachte. Der Engel Gabriel (auf Arabisch Jibril ) erschien Mohammed, der des Lesens und Schreibens unkundig war, und offenbarte Ihm Gottes Worte. Mohammed wurde das Sprachrohr für diese Botschaften, und der Koran war folglich einfach das Wort Gottes in schriftlicher Form. Qur’an bedeutete »Vortrag«.
Es gab so viel Grundlegendes, das ihrer vorgefassten Meinung widersprach. Sie hatte angenommen, die Muslime wären eine uniforme Gruppe und allesamt aus demselben frommen und unnachgiebigen Holz geschnitzt. Doch sie erfuhr, dass es schiitische und sunnitische Auslegungen des Korans gab und dass innerhalb einer Moschee ebenso unterschiedliche Ausprägungen und Spielarten von Glaube und Frömmigkeit existierten wie in jeder Kirche. Manche Muslime gingen locker mit ihrem Glauben um, andere hingegen kannten den Koran und das dazugehörige Handbuch mit Verhaltensregeln, den Hadith, in- und auswendig. Es gab Muslime, die nahezu nichts über ihre Religion wussten, die nur wenige Male im Jahr beteten, und solche, die einer strengen Interpretation ihres Glaubens anhingen. Manche muslimische Frauen trugen T-Shirts und Jeans, andere verhüllten sich von Kopf bis Fuß. Es gab muslimische Männer, die ihr Leben nach dem Leben des Propheten ausrichteten, und solche, die vom Glauben abkamen und dieses Ziel nicht erreichten. Es gab passive Muslime, zweifelnde Muslime, beinahe agnostische Muslime, fromme Muslime und Muslime, die sich die Worte des Korans ihren kurzfristigen Wünschen und Zielen entsprechend zurechtbogen. Das alles waren bekannte Phänomene, wie man sie in jeder Religion findet.
Damals ging Kathy regelmäßig in den Gottesdienst einer großen evangelikalen Kirche nicht weit von ihren Arbeitsstellen. Sie war nicht immer voll, bot aber Sitzplätze für rund tausend Gemeindemitglieder. Kathy verspürte das Bedürfnis, Nähe zu ihrem Glauben herzustellen; sie brauchte alle Kraft, die sie finden konnte.
Aber es gab einige Dinge, die ihr an dieser Kirche missfielen. Sie war an die feurigen Predigten gewöhnt, die in dieser Kirche gehalten wurden, an die extremen Selbstdarstellungen und dramatischen Inszenierungen, aber eines Tages hatte sie das Gefühl, dass das Ganze zu weit ging. Die Kollektenteller waren gerade herumgegangen, und nachdem sie eingesammelt und die Spenden gezählt worden waren, machte der Prediger – ein kleiner Mann mit rosigem Gesicht und Schnurrbart – keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. Sein Gesicht verzog sich wie vor Schmerz. Er konnte nicht an sich halten. Er tadelte die Gemeinde zunächst ruhig und dann mit wachsendem Ärger. Liebten sie ihre Kirche denn nicht? Freuten sie sich nicht über die Verbindung, die die Kirche zu ihrem Herrn Jesus Christus herstellte? In dem Tenor ging es weiter, bis er die Anwesenden sogar regelrecht beschimpfte wegen ihres Geizes. Die Standpauke dauerte zwanzig Minuten.
Kathy war entsetzt. Sie hatte noch nie erlebt, dass die Kollekte gleich während des Gottesdienstes gezählt wurde. Und dann auch noch mehr zu verlangen! Die Gemeindemitglieder waren alles andere als wohlhabend, das wusste sie. Es war eine Kirche, die von Arbeitern und Mittelständlern besucht wurde. Die Menschen gaben, was sie konnten.
An jenem Tag ging sie erschüttert und verwirrt nach Hause. Nachdem sie Zachary ins Bett gebracht hatte, nahm sie erneut die Infobroschüren zur Hand, die Yuko ihr gegeben hatte. Sie blätterte im Koran. Kathy war unsicher, ob der Islam der richtige Weg für sie war, aber sie wusste, dass Yuko sie nie fehlgeleitet hatte, dass Yuko der besonnenste und vernünftigste Mensch war, den sie kannte, und wenn der Islam gut für sie war,
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