Zeitoun (German Edition)
warum sollte er dann nicht auch gut für Kathy sein? Yuko war ihre Schwester, ihre Mentorin.
Die ganze Woche über schlug Kathy sich mit diesem Glaubenskonflikt herum. Von morgens bis abends gingen ihr die Fragen durch den Kopf. Eines Tages hatte sie gerade ihre Schicht bei Webster angefangen, als ein Mann hereinkam, den sie auf Anhieb erkannte. Er war einer der Prediger in ihrer Kirche. Sie ging zu ihm, um ihn beim Kauf eines Sportsakkos zu beraten.
»Wissen Sie«, sagte er, »Sie sollten mal in unsere Kirche kommen! Ist gar nicht weit von hier.«
Sie lachte. »Ich kenne Ihre Kirche! Ich bin regelmäßig da, jeden Sonntag.«
Der Mann wunderte sich. Er hatte sie noch nie gesehen.
»Ach, ich sitze immer ganz hinten«, sagte sie.
Er lächelte und sagte, er würde das nächste Mal nach ihr Ausschau halten; ihm liege viel daran, dass sich jeder willkommen fühle.
»Wissen Sie«, sagte Kathy zu ihm, »das muss ein Zeichen Gottes sein, dass ich Sie hier treffe.«
»Wieso?«, fragte er.
Sie erzählte ihm von ihrer Glaubenskrise, dass sie von manchen Aspekten des Christentums, so wie sie es kannte, enttäuscht sei, von manchen Dingen, die sie gesehen hatte, auch in seiner eigenen Kirche. Sie erzählte ihm, dass sie sogar mit dem Gedanken spiele, zum Islam überzutreten.
Er hörte aufmerksam zu, schien aber nicht weiter besorgt zu sein, womöglich ein Mitglied seiner Gemeinde zu verlieren.
»Ach, das ist nur der Teufel, der sein Spiel mit Ihnen treibt«, sagte er. »Das ist seine Art, Sie von Christus fortzulocken. Wir sehen uns dann nächsten Sonntag.«
Als er ging, fühlte Kathy sich bereits wieder gefestigter in ihrem Glauben. Diese Begegnung war ganz bestimmt ein Zeichen Gottes! Genau in dem Augenblick, als sie Zweifel an ihrer Kirche bekam, spazierte ein Bote Jesu schnurstracks in ihr Leben.
Am folgenden Sonntag ging sie mit wiedererstarkter Entschlossenheit in die Kirche. Yuko mochte ja Trost und Halt im Islam gefunden haben, doch Kathy war überzeugt, dass sie von Christus persönlich angesprochen worden war. In der Kirche setzte sie sich weit nach vorne, damit ihr neuer Bekannter sie sah und wusste, dass er etwas bewirkt hatte.
Und wirklich, als er auf die Gemeinde hinabschaute und sie bemerkte, machte er große Augen. Seine Miene verriet, dass er auf sie gewartet hatte. Denselben Gesichtsausdruck hatte sie schon bei Kindern gesehen, die eine Geburtstagstorte mit ihrem Namen drauf erblickten.
Und dann wurde plötzlich, mitten in der Predigt, ihr Name aufgerufen. Der Prediger sagte vor der versammelten Gemeinde von fast tausend Menschen ihren Namen, Kathy Delphine.
»Kommen Sie herauf, Kathy«, befahl er.
Sie stand auf und ging auf die grellen Lichter der Kanzel zu. Oben angekommen, wusste sie nicht, wohin sie schauen sollte, um dem gleißenden Licht zu entgehen. Sie schirmte die Augen ab. Sie blinzelte und sah nach unten – auf ihre Schuhe, die Leute in der ersten Reihe. Noch nie hatte sie vor so vielen Menschen gestanden. Nicht einmal auf ihrer Hochzeit, wo es immerhin schon rund fünfzig Freunde und Verwandte gewesen waren. Was sollte das? Wieso war sie nach vorne gerufen worden?
»Kathy«, sagte der Prediger, »erzählen Sie den Leuten, was Sie mir erzählt haben. Erzählen Sie es uns allen.«
Kathy erstarrte. Sie wusste nicht, ob sie das schaffen würde. Sie war ein gesprächiger Mensch und nur selten nervös, aber etwas, das sie dem Prediger unter vier Augen gestanden hatte, nun vor eintausend Fremden zu wiederholen – das kam ihr falsch vor.
Dennoch, Kathy vertraute darauf, dass der Mann wusste, was er tat. Sie glaubte, dass sie auserwählt war, in dieser Kirche zu bleiben. Und sie wollte dienen. Helfen. Vielleicht war das hier, genau wie ihre Begegnung mit dem Prediger neulich im Geschäft, ein weiteres vorherbestimmtes Ereignis, das sie Christus näherbringen sollte.
Ihr wurde ein Mikrofon in die Hand gedrückt, und sie sprach hinein, erzählte der Gemeinde, was sie dem Prediger erzählt hatte, von ihrer Beschäftigung mit dem Islam und von –
Der Prediger unterbrach sie. »Sie hat sich mit dem Islam befasst!«, sagte er höhnisch. »Sie hat mit dem Gedanken gespielt« – und an der Stelle legte er eine Pause ein –, »Allah anzubeten!«, woraufhin er ein prustendes, abfälliges Geräusch von sich gab, ein Geräusch, wie es ein Achtjähriger auf dem Spielplatz machen würde. Dieser Prediger, der Kopf dieser Kirche und Gemeinde, verwendete einen solchen Tonfall, wenn er von Allah
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