Zeitoun (German Edition)
ihr besser. Yuko würde sie beruhigen. Natürlich ging es Zeitoun gut, sagte sie sich. Der Mann am Telefon hätte Gott weiß wer sein können. Es war doch nichts Ungewöhnliches dabei, dass Leute sich ein Telefon teilten, wo die meisten Festnetzanschlüsse der Stadt ausgefallen waren.
Ein paar Minuten lang war sie einigermaßen ruhig. Doch dann fingen die Kinder wieder mit ihren Fragen an.
»Was ist mit unserem Haus passiert, Mama?«
»Wo ist Daddy?«
Und schon überschlugen sich Kathys Gedanken erneut. Und wenn der Mann doch ein Killer war? Was, wenn sie gerade mit dem Mörder ihres Mannes gesprochen hatte? Es kam ihr vor, als würde sie von oben zuschauen, wie sich Kräfte um ihren Mann zusammenballten. Nur sie wusste, was in der Stadt vor sich ging, der Wahnsinn, das Leid und die Verzweiflung. Zeitoun konnte nicht fernsehen, konnte nicht wissen, wie groß das Ausmaß des Chaos war. Sie hatte die Hubschrauberaufnahmen gesehen, die Pressekonferenzen, sie hatte die Statistiken gehört, die Berichte von Banden und um sich greifenden Verbrechen. Kathy biss sich auf die Lippen. »Kinder, fragt mich das jetzt nicht. Fragt mich nicht.«
»Wann fahren wir wieder nach Hause?«
»Bitte!« Kathy fuhr aus der Haut. »Lasst mich mal eine Minute in Ruhe. Ich muss nachdenken!« Sie verlor die Fassung. Sie konnte kaum noch die Straße erkennen. Die Umrisse verschwammen. Sie spürte den Zusammenbruch nahen und fuhr auf die Standspur. Sie war tränenblind, wischte sich mit dem Handrücken die Nase, den Kopf aufs Lenkrad gelegt.
»Was hast du, Mama?«
Neben ihr rauschte der Highway.
Einige Minuten später hatte sie sich so weit im Griff, dass sie bis zur nächsten Raststätte fahren konnte. Sie rief Yuko an.
»Du fährst nicht einen Meter weiter«, sagte Yuko.
Innerhalb von zwanzig Minuten wurde ein Plan entworfen. Kathy blieb, wo sie war, während Yukos Mann Ahmaad Flugverbindungen heraussuchte. Kathy würde nur bis Houston fahren müssen. Yuko würde dafür sorgen, dass Kathy und die Kinder bei einer Freundin von ihr übernachten konnten. Ahmaad würde sofort nach Houston fliegen und die Familie dann nach Phoenix fahren.
»Bist du dir sicher?«, fragte Kathy.
»Ich bin deine Schwester. Du bist meine Schwester. Du bist alles, was ich habe«, sagte Yuko. Ihre Mutter Kameko war in dem Jahr gestorben. Der Verlust war für Yuko und Kathy überaus schmerzlich gewesen.
Und schon musste Kathy wieder weinen.
Am Morgen erwachte Zeitoun gegen neun Uhr, völlig gerädert vom Heulen der Hunde. Er hatte sich für den Tag vorgenommen, sie zu suchen.
Nach seinen Gebeten paddelte er durch den überfluteten Garten nach draußen. Die Hunde schienen ganz in der Nähe zu sein. Er überquerte die Straße und bog nach links, die Dart Street hinunter. Nur wenige Häuser weiter entdeckte er die Quelle des Lärms.
Es war ein Haus, das er gut kannte. Er paddelte näher heran, und die Hunde drehten durch. Ihre verzweifelten Laute kamen aus dem Innern des Hauses. Jetzt musste er einen Weg hinein finden. Das Erdgeschoss stand unter Wasser, daher vermutete er, dass die Hunde – zwei, wie er schätzte – im ersten Stock gefangen waren. Gleich neben dem Haus stand ein weit verästelter Baum. Er paddelte hin und band das Kanu am Stamm fest.
Er zog sich an den Ästen hoch und kletterte so weit, bis er durch das Fenster im ersten Stock spähen konnte. Er sah die Hunde nicht, aber er konnte sie hören. Sie waren in dem Haus, und sie wussten, dass er ganz in der Nähe war. Der Baum, in dem er stand, war etwa drei Meter von dem Fenster entfernt. Er konnte nicht springen. Der Abstand war zu groß.
In diesem Moment entdeckte er eine etwa dreißig Zentimeter breite und knapp fünf Meter lange Planke, die nebenan im Garten trieb. Er kletterte von dem Baum, paddelte zu der Planke, brachte sie zum Haus und lehnte sie gegen den Baum. Er kletterte wieder nach oben und legte die Planke so, dass sie eine Brücke zwischen Baum und Hausdach bildete. Er befand sich etwa fünf Meter über dem Boden, rund zweieinhalb Meter über der Wasseroberfläche.
Die Brücke, die er sich da gebaut hatte, unterschied sich eigentlich kaum von den Gerüsten, die er jeden Tag bei seiner Arbeit benutzte, und nachdem er kurz mit einem Fuß ihre Tragfähigkeit geprüft hatte, spazierte er über die Planke und aufs Dach.
Dort stemmte er ein Fenster auf und ließ sich ins Haus hinab. Das Gebell wurde lauter und eindringlicher. Er durchquerte das Schlafzimmer, in das er eingestiegen
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