Zeitreisende sterben nie
der rückwärtigen Wand gab es etliche Türen und Vorhänge, die es den Schauspielern ermöglichten, die Bühne zu betreten oder zu verlassen. Der Nachmittag war kühl, und eine nicht geringe Zahl der Zuschauer, vor allem im Parkett, hatte sich Essen und alkoholische Getränke mitgebracht. »Ich frage mich«, sagte Dave, »wann die Snackbars erfunden wurden.«
Mehrere Schauspieler verteilten Kopien eines gedruckten Programmhefts. HAMLET stand da. Von William Shakespeare. Dave las die Besetzungsliste. Die Namen waren ihm natürlich alle fremd, mit einer Ausnahme: Den Geist spielte der Autor persönlich.
Er faltete das Heft zusammen und steckte es in die Tasche.
Shel sah geistesabwesend nach, wie spät es war, woraufhin ein junger Mann, der neben ihm saß, verunsichert seine Armbanduhr anstierte. »Was ist das?«, fragte er.
Zu lügen hatte wenig Sinn. »Das verrät die Tageszeit.«
»Es ist eine Uhr«, sagte der Mann. »Man kann wirklich eine Uhr bauen, die man sich um das Handgelenk binden kann?«
Shel zeigte sie ihm. »Sie ist ganz neu. Ich habe sie erst gestern erworben.«
»Wo?«, fragte der junge Mann. Er sah aus wie Mitte zwanzig.
»Marlboro Street, glaube ich.« Shel drehte sich zu Dave um. »Es war doch in der Marlboro Street, oder, Dave?«
Dave wusste nicht einmal, ob es in London eine Marlboro Street gab. »Ich glaube schon«, sagte er.
»Hervorragend«, sagte der junge Mann. »So etwas muss ich mir auch zulegen. Darf ich Euch fragen, Sir, wie Euer Name lautet?«
»Adrian Shelborne.« Dann stellte er Dave vor.
»Ich freue mich sehr, Eure Bekanntschaft zu machen, Gentlemen«, sagte er. »Ich bin Ben Jonson.«
Dave wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Als er sich erholt hatte, reichte er Jonson die Hand. »Der Autor von Every Man in His Humour?«
Jonson lächelte. »Derselbe.«
»Exzellent. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«
»Habt vielen Dank.«
»Ihre Arbeit ist exquisit.«
»Das ist wirklich schmeichelhaft, Mr Dryden.«
»Meine Freunde nennen mich Dave.«
Irgendwo ertönte ein Horn, gefolgt von klagenden Flötenklängen. Auf der Bühne erschien ein militärisch gekleideter Wachposten und fing an, auf und ab zu marschieren. Die Flöte verstummte. Etwas knarrte.
Die Wache drehte sich in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war: »Wer da?«
Die Aufführung dauerte mehr als vier Stunden. Dave versuchte sich ein Publikum des einundzwanzigsten Jahrhunderts vorzustellen, überwiegend stehend, das eine Vorstellung dieser Länge verfolgte.
Als er sich anfangs mit den Bedingungen im Theater vertraut gemacht und gesehen hatte, dass viele Zuschauer Bier und Speisen mitbrachten, hatte er einen lauten, lärmenden Abend erwartet. Aber kaum hatte die Aufführung begonnen, da zeigte sich das Publikum erstaunlich aufmerksam, und im Bedarfsfall sorgten die Zuschauer selbst für Ordnung.
Einen Blick auf den Autor zu erhaschen, war nicht einfach. Der Geist trug eine lange, dunkle Robe, und seine Züge versteckten sich in den Falten einer schwarzen Kapuze.
Es gab keine Pausen zwischen den einzelnen Akten. Das Stück lief einfach weiter. Aber das Publikum war von Anfang an mit Leib und Seele dabei. Die Leute sahen atemlos zu, wie der Geist in Erscheinung trat, warteten in gespanntem Schweigen, während Hamlet erwog, Claudius am Altar zu töten, wirkten erleichtert, als er davon Abstand nahm. Sie brachen in donnerndes Gelächter über den dummen Polonius aus, der jedermann endlose Ratschläge über angemessenes Benehmen erteilte. Eine der lautesten Reaktionen des Abends provozierten seine uferlosen Ausführungen zu der Erkenntnis, dass die Seele des Humors in der Kürze läge.
Sie jubelten, als Hamlet ihn durch den Vorhang erdolchte, und sie ächzten, als sich herausstellte, dass Ophelia tot war.
Während des umfangreichen Blutvergießens am Ende saßen oder standen sie wie angenagelt da, und sie waren still in jenen abschließenden Augenblicken, da Horatio seiner Hoffnung Ausdruck gab, sie würden aus diesem Debakel ihre Lehren ziehen, und Fortinbras Hamlet ein letztes Mal Tribut zollte. Begleitet von einem Grabgesang wurden die Toten von der Bühne getragen.
Anschließend verbeugten sich die Schauspieler vor ihrem wild und moderat trunken applaudierenden Publikum.
Shakespeare versteckte sich, solange er auf der Bühne war, weiterhin hinter seiner Geisterkleidung. Und schließlich strömte das Publikum hinaus.
Theaterpersonal oder irgendwer tauchte mit Bier und Essen für die
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