Zeitreisende sterben nie
sagte sie sich, eine Fälschung. Gib dich keinen sinnlosen Hoffnungen hin. Wäre es keine Fälschung, warum um alles in der Welt hatte es der Absender dann anonym geschickt?
Als der Tag zu Ende ging, saß sie in einer Lehrerkonferenz fest. Folglich war es bereits dunkel, als sie nach Hause kam. Sie trat ein, das Licht ging an, und sie ließ ihre Tasche auf den nächsten Stuhl fallen. Eine Nachricht von Miles wartete bereits auf sie: »Aspasia, ich habe die Software. Ruf mich an, sobald du kannst.«
Dies war für Miles die arbeitsreichste Zeit des Jahres, also dauerte es beinahe eine Woche, ehe sie einander zu sehen bekamen. Für Aspasia war das eine anstrengende Zeit. Wieder und wieder las sie Achilleus. Und, ja, das Stück hatte die kraftvolle Wirkung der Sophokles-Dramen; die klassische Konfrontation, in der die moralischen Grenzen verwischen und jede Entscheidung sich als tödlich erweisen kann.
Sie wollte, dass es war, was es zu sein vorgab. Sollte sie tatsächlich eines der verlorenen Stücke vor sich haben, würde das ihrem Leben ein Maß an Bedeutung schenken, das weit jenseits aller Hoffnungen lag. Und weil sie so verzweifelt wünschte, es möge wahr sein, wusste sie, dass sie nicht imstande war, ein objektives Urteil zu fällen.
Realistisch betrachtet hätte sie vermutlich selbst ein Stück dieses Kalibers schreiben können. Alles, was sie brauchte, war die Beherrschung der Sprache und eine gewisse Vertrautheit mit klassischer Dramaturgie. Es reichte nicht, einfach ein literarisches Stück zu lesen, um wahre Größe zu erkennen. Größe entstand über die Zeit. Gestützt vom Beifall von Generationen. Alles, was sie in diesem Moment wusste, war, dass das Stück sie berührt hatte, dass es ihre Gefühle angesprochen hatte wie Antigone und Ödipus auf Kolonos.
Sie bemühte sich, sich zu entspannen und das Manuskript zu vergessen, nicht aber, es ins Englische zu übertragen.
Das hätte bedeutet, sie nähme es ernst, und nur ein Idiot konnte so etwas tun.
Und doch wanderte sie emotionell in dieses unbestimmte Heiligtum vor den Mauern von Troja. Sie sah es, wie es hatte sein müssen, falls es je existiert hatte; ein bescheidenes Steingebäude mit einer Statue des Apollon nahe dem Altar, erleuchtet von einer Reihe flackernder Kerzen oder Öllampen. Eine Handvoll Gläubiger würde vor dem Gott knien, die Köpfe gesenkt, und darum beten, dass sie aus den endlosen Kämpfen heil zu ihren Familien zurückkehren würden. Und im Hintergrund, verborgen im Schatten, stünde Paris und wartete mit angelegtem Pfeil.
Schließlich tauchte Miles mit der Softwäre auf. Das Programm nannte sich Syntaxleser. Es war nicht das Original-Shakespeare-Programm, sondern eine neuere Entwicklung, die beim Unterricht dazu diente, Studenten kreatives Schreiben nahezubringen. Es analysierte deren Arbeit. »Aber«, sagte er, »ich sehe keinen Grund, warum es hier nicht genauso gut arbeiten sollte. Und wir können es auf Altgriechisch programmieren.«
Miles war in den Dreißigern, hatte dunkles Haar und attraktive Züge. Seine Brauen waren beinahe dauernd erhoben, wodurch er permanent überrascht aussah. Seine Begeisterung für Computer war unerschöpflich, und er neigte dazu, sich endlos über die neuesten technischen Errungenschaften auszulassen, wurde er auch nur im Geringsten dazu ermutigt.
Aspasia hatte die sieben noch erhaltenen Stücke bereits gescannt und im Computer abgespeichert. Miles setzte sich und spielte die Software auf. Dann stellte er einige Fragen über griechische Verben und Satzstrukturen und Relativpronomen und so weiter. Ihre Antworten wandelte er in Eingaben um, dazu angetan, den Achilleus mit den anderen sieben Stücken zu vergleichen und den Grad der Wahrscheinlichkeit zu ermitteln, nach der alle acht Stücke aus der Feder desselben Autors stammten. Schließlich blickte er auf, sagte: »Viel Glück«, und drückte auf START.
»Sollte nicht allzu lange dauern«, fügte er hinzu.
Das System summte und piepte ungefähr eine Minute lang. Dann verkündete es mit einigen Takten Rachmaninow, dass der Prozess abgeschlossen war.
WAHRSCHEINLICHKEIT ÜBEREINSTIMMENDER URHEBERSCHAFT: 87%
»Da hast du's«, sagte Miles.
O Gott, lass es wahr sein. »Aber würde ich selbst versuchen, Sophokles nachzuahmen, könnte ich eine ebenso hohe Wahrscheinlichkeit erreichen.«
»Vielleicht«, sagte Miles. »Ich weiß es nicht. Nicht mein Fachgebiet.«
Richtig. Wie misst man Genialität?
Sie warf erneut einen Blick auf den
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