Zeitriss: Thriller (German Edition)
zog die Beine an und stieß sich kräftig vom Boden ab. Mit gestrecktem Körper schoss er dem Licht entgegen, bis er die Wasseroberfläche durchbrach und den ersten Atemzug seit einer guten Minute tat. Mit gefüllten Lungen tauchte er dicht unter der Oberfläche entlang bis zum schlammigen Ufer. Träge zog er seinen zerschlagenen Körper an Land, ließ sich, noch halb im Wasser, auf den Rücken sinken und seufzte laut.
Aus den vielen Platzwunden im Gesicht und am Hals sickerte Blut.
Es war Zeit, zur Enterprise Corporation zurückzukehren, befand er und schüttelte sogleich den Kopf.
Was für ein blöder Gedanke in solch einem Moment.
Sein Blick wanderte zu dem leuchtenden Streifen Wüstenhimmel. Es war das dritte Mal in diesem Monat, dass er sich fast umgebracht hätte.
»Was tue ich hier eigentlich?«, fragte er laut.
9.
Kalifornien, Nordamerika
Enterprise Corporation
Vorstandsauditorium
21. Juni 2084
Ortszeit: 10.55 Uhr
63 Tage vor dem Esra-Transport
»Ich habe auch besondere Kräfte«, sagte Professor Author.
Wilson fasste den kleinen Mann ins Auge, der neben ihm saß. »Ach, ja?«
»Ja, ich bin Hellseher«, flüsterte er. »Sie waren in Schwierigkeiten bei Ihrem Sprung gestern. Ich habe ja gesagt, es ist zu gefährlich.«
»Passen Sie lieber auf«, sagte Wilson und zeigte mit dem Daumen zum Podium. »Sie wissen, wie ernst diese Schmarotzer ihre Verlautbarungen nehmen.« Sie saßen ganz vorne rechts. Mit den gut 3.500 Angestellten waren die gestaffelten Sitzreihen voll besetzt. Für so eine große Menschenmenge war es erstaunlich leise im Saal; nur ein gedämpftes Gemurmel hing über den Köpfen.
Wilson sah gut aus. Vierundzwanzig Stunden nach seinem Sturz war schon keine einzige Schramme, kein blauer Fleck mehr an ihm zu sehen. Er trug eine schwarze dreiviertellange Jacke, schwarze Hosen und schwarze hochglänzende Schuhe. Die Jacke hatte einen steifen Stehkragen. Seine Kleidung war aus Neocotton gemacht, einem luftdurchlässigen, elastischen Stoff, der kein Wasser aufnahm, selbst wenn man in strömendem Regen stand, und der auch nicht schmutzig wurde, sondern weich und glatt blieb wie frisch gebügelt. Am Revers steckte das Emblem des Mercury-Lieutenants, das heißt eines Beraters des Mercury-Teams, und als solcher war er dem Mercury-Commander Davin Chang und seinem Stellvertreter, dem Mercury-Taktiker Andre Steinbeck, unterstellt.
Professor Author flüsterte weiter. »Wie ich hörte, haben Sie Ihren Schirm verloren und Ihren Helm. Ihr Anzug wurde zerrissen und hat Blutflecke bekommen. Es ging nicht gut, wie üblich, hm?«
Wilson neigte sich zu ihm hin. »Sehe ich aus, als wäre ich in Schwierigkeiten gewesen?«
Die Antwort kam in ebenso ernstem Ton. »Wie Sie aussehen, besagt gar nichts.« Der Professor kam noch ein Stückchen näher und meinte kaum hörbar: »Höchstwahrscheinlich haben Sie die Selbstheilung aktiviert.« Nachdem ein paar Sekunden lang keine Erwiderung kam, schnaubte er enttäuscht. »Neuerdings behalten Sie aber auch alles für sich.«
Wilson war besonders auf der Hut, wenn der Professor von seiner Omega-Programmierung anfing. Sie beide waren die einzigen Menschen, die von seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten wussten, und wenn es nach Wilson ging, sollte es dabei bleiben.
Professor Author war Anfang fünfzig und sah nicht sonderlich gut aus. »Unschön« war der Ausdruck, den Wilson für ihn benutzte. Die krausen dunklen, von grauen Strähnen durchzogenen Haare des Professors standen nach allen Seiten ab, als wäre er mit den Fingern in die Steckdose geraten. Sein kurzer Oberkörper betonte den kugelrunden Bauch, und seine Hände waren klein, die Fingernägel gepflegt. Albert Einstein – dem Author unverkennbar ähnlich sah – war fraglos sein Idol. Und um ihn weiter zu kopieren, trug er die gleiche Kleidung: dunkelblaue Hosen, weißes Button-Down-Hemd und Nike-Sneaker, wobei er von allem sieben Exemplare hatte. Er zitierte sogar den Nobelpreisträger und gab an, die Kleiderfrage sei für ihn eine Entscheidung weniger, die er täglich zu leisten hätte, und so könnten aufs Leben gerechnet Millionen Gedankenprozesse für viel wichtigere Dinge verwendet werden.
Wilson und Author waren seit über zehn Jahren befreundet. Sie hatten sich an der Universität von Sydney kennengelernt. Author war Doktor der Neurologie und für Wilsons Omega-Programmierung verantwortlich. Bei der illegalen Operation war ein Teil des Gehirns, er nannte es die Gottesschatulle, aktiviert worden, indem
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